Kapitel 15 - Manches lässt sich nicht erklären

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Dee stellte eine Tasse mit schwarzem Karamelltee vor sich auf den Tisch, süßte ihn mit zwei Stück Zucker und umfasste die Tasse mit beiden Händen, während sie eine Weile tatenlos da saß und ins Leere blickte. Dann stand sie auf, öffnete die Tür  des Küchenschranks und entnahm ihm eine große, rechteckige Blechdose mit Weihnachtsmotiv. Hier verwahrten sie und ihr Dad sämtliche Fotos und andere Erinnerungsstücke ihrer Mutter auf.

Anfangs, in der Zeit nach dem Unfall, hatte sie sich oft die Bilder ihrer Mutter angesehen, aber nach einer Weile wurde ihr dadurch nur viel stärker bewusst, dass ihre Mutter, mit all ihrer Lebensfreude, ihrem schrägen Humor und ihrer Toleranz, nichts weiter war als eine Erinnerung. Jetzt allerdings überkam sie das Bedürfnis, in diesen Erinnerungen zu stöbern, ohne eine klare Vorstellung zu haben, inwieweit sie darin Linderung finden könnte. Die Ereignisse der letzten Tage, verwirrend und verstörend zu gleich, ließen sie nicht zur Ruhe kommen, und so wünschte sie sich jetzt, ihrer Mutter wenigstens gedanklich nah zu sein.

Eine Zeit lang verlor sie sich in den vertrauten Bildern, bevor sie sich einige Trauerkarten heraussuchte, um die verschiedenen Texte durchzulesen. Sie hatte das bestimmt nach der Beerdigung schon getan, bemerkte aber, dass sie sich nicht auch nur an eine einzige erinnerte. Neben einigen Floskeln, wie Herzliches Beileid, Tiefes Mitempfinden, oder auch wir werden sie nie vergessen, fiel Dee ein Text auf, der sich von den anderen unterschied, dadurch, dass er zwar recht knapp gefasst war, dafür aber sehr berührte: Ich mochte sie so gern. Sie strahlte Wärme aus.

Dee biss sich auf die Lippen, um die Tränen zurückzuhalten. Hatte ihre Mutter so auf andere gewirkt? Sie vermochte es sich gar nicht mehr richtig vorzustellen. Die Erinnerung fing schon ganz langsam an zu verblassen. Das traf weniger auf ihren Alltag zu, der war noch recht präsent, vor allem, wie viel Spaß sie miteinander gehabt hatten, wie oft sie sich heimlich über ihren Dad amüsierten, zusammen kochten oder sich über Netflixserien austauschten. 

Gestritten hatten sie auch häufig, dann gab es Situationen, in denen sie am liebsten mit Sack und Pack ausgezogen wäre und ihre Mutter zum Mond schießen wollte. Aber dieser Zustand hielt nie lange an. Doch jetzt war ihre Mutter noch viel ferner als der Mond. Sie war ein leicht verblichenes Bild, nicht mehr richtig greifbar. Dee hätte beim besten Willen nicht sagen können, wie ihre Mom auf andere gewirkt hatte, auf Kollegen beispielsweise oder auf Bekannte. War sie wirklich diese Person gewesen, die andere Menschen so für sich einnehmen konnte?

Sie nahm die Verfasserin der Karte näher ins Visier. Carla Houseman, spirituelle Wegbegleiterin, stand da. Adresse und Emailadresse gleich darunter. Eine Telefonnummer war nicht aufgeführt. Ohne genau erklären zu können, weshalb, war Dee plötzlich davon überzeugt, dass diese Carla Houseman ihr weiterhelfen könnte. Und so zögerte sie nicht und schrieb einen kurzen Zweizeiler an die aufgeführte Emailadresse. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Carla Houseman lud Dee für Mittwoch, kommende Woche, ganz unverbindlich zu sich in die Praxis ein.

***

Bones würde sich selbst zur Zeit vielleicht nicht gerade als Glückspilz bezeichnen, seine Laune hatte sich allerdings in den letzten Tagen deutlich gebessert, nachdem er bemerkte, dass offensichtlich zwischen Dee und Richard Harper Funkstille herrschte. Er konnte sich natürlich vorstellen, was zu dieser Funkstille geführt haben mochte, denn er war schließlich nicht blind. Und er war auch nicht der einzige, der den Tanz von Jake und Dee am Ballabend gesehen hatte. Man konnte diesen Tanz, vorsichtig formuliert, wohl als emotional intensiv bezeichnen, und wäre er an Richards Stelle gewesen, er hätte wohl ganz ähnlich reagiert. Aber des einen Leid ist ja oft des anderen Freud', und auch wenn Bones wusste, dass Jake einen hohen Stellenwert in Dees Leben einnahm, war er doch heilfroh, dass Richard allem Anschein nach daraus verschwunden war. 

The Soulcollector - Rätselhafte TodesfälleWhere stories live. Discover now