Kapitel 35 - Das Wolgalied - Zarewitsch

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Russland, 50 Kilometer südlich von Stalingrad - 24. Dezember 1942

Paul Jungblut hatte in seinem Leben nie zuvor eine derartige Kälte erlebt. Über den Zustand, dass sich der Frost in sämtliche Knochen fraß, dass er das Blut in den kleinen Gefäßen der Finger und Zehen gefrieren ließ und der Körper darauf mit pochendem Schmerz reagierte, darüber war man längst hinaus. Inzwischen fühlte man gar nichts mehr, was noch viel schlimmer war.

Heinz Söller, einer seiner Kameraden hatte vorgestern den Fehler gemacht, sich mit Gewalt seinen Stiefel vom Fuß zu ziehen, weil er nicht die Geduld aufbrachte, den Fuß an dem kleinen Feuer aufzuwärmen, das sie im Schutze der kläglichen Überreste einer alten, zerstörten Datscha errichtet hatten.

Diese Ungeduld kostete ihn drei seiner Zehen, die durch die Zugkraft einfach abgerissen worden waren. Heinz hatte den Moment, indem sie für immer vom Rest seines Fußes abgetrennt wurden, noch nicht einmal bemerkt. Der unerträgliche Schmerz setzte erst später ein.

Heute war Weihnachten. Weihnachten, wenn er sich dieses Wort mehrere Male hintereinander vorsagte, dann verlor es an Bedeutung, wurde es irgendwie surreal, wie ein Begriff aus einer fremden Sprache. Weihnachten, Weihnachten, Weihnachten.
Hier, an der Front, wo das Grauen einen täglich mit seiner verzerrten Fratze begrüßte, konnte Weihnachten sowieso keine Bedeutung haben.

Und doch, ganz tief vergraben im Herzen, nicht im Verstand, nur im Herzen, da verband er mit Weihnachten ein Gefühl, das an diesem Ort eigentlich ferner nicht sein konnte:

Hoffnung!

Und selbst wenn keiner es aussprach, Paul glaubte, dass es seinen Kameraden genauso ging. Dass es seinen Feinden genauso ging. Hoffnung lag in der Luft wie ein feiner Sprühnebel, nur heute, nur an diesem Tag, durfte man ein kleines bisschen Hoffnung haben.

In dem kleinen Raum, dessen marode Wände notdürftig mit Brettern verstärkt waren, um ihn als behelfsmäßiges Lager nutzten zu können, hatten sie einen verklumpten, dreckigen Kerzenstummel angezündet. Um den saßen sie nun, eng beieinander kauernd und die Körperwärme des anderen nutzend, und stießen mit einem gestohlenen Kartoffelschnaps auf den Heiligen Abend an.

„Frohe Weihnachten", sagte Kurt Brüggemann, neunzehnjähriger, einfacher Soldat aus Köln. An seinem jungen Gesicht konnte man jede Gefühlsregung ablesen. Er wollte nach Hause, zu seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester. Tief in seinem Inneren war er sich darüber im Klaren, dass dieser Wunsch höchstwahrscheinlich nicht in Erfüllung gehen würde. Er kratzte sich mit den Fingern der rechten Hand am Kopf, und nahm,  nachdem er den Schnaps mit einer schnellen Bewegung hinuntergekippt hatte, auch noch die linke zu Hilfe.

Das elendige Jucken war die Begleiterscheinung der Läuse, unter denen nahezu alle Soldaten zu leiden hatten. Deshalb vermieden sie Körpernähe so gut es ging, aber die Kälte und auch die Wehmut machten es manchmal schwer, Abstand zueinander zu halten.

Paul griff nun schon zum dritten Mal zur Flasche und goss sich großzügig von dem selbstgebrannten Wodka ein. Alkohol war oft die einzige Möglichkeit, die täglichen Grauen des Krieges zu ertragen. Heute jedoch war es noch etwas anderes, was Paul so trinkfreudig werden ließ.

Pures Heimweh.

Er dachte an zu Hause und wie man in seiner Familie Weihnachten feierte. Natürlich mit gutem Essen, mit Geschenken und festlich geschmücktem Baum. Aber was für ihn diesen Tag so besonders machte, war die Tatsache, dass sie jedes Jahr alle miteinander gesungen hatten. Und zwar durchaus gut. Musisches Talent lag der Familie Jungblut in den Genen.

Und so fing Paul plötzlich an, den Text eines Weihnachtsliedes zu singen. Leise zunächst und mit noch unsicherer Stimme, dann immer entschlossener. Seine Kameraden blickten sich überrascht an, aber es dauerte nicht lange, bis sie mit einstimmten.

„Stille Nacht, heilige Nacht, alles schläft, einsam wacht..."

Paul registrierte gerührt, dass der junge Soldat Kurt Brüggemann sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel wischte, aber auch die anderen Kameraden sangen ausnahmslos mit und legten ihr ganzes Herzblut in ihre Stimme.

Man hörte schon seit geraumer Zeit kein Artilleriefeuer mehr. Im ersten Weltkrieg hatte es zu Weihnachten eine offizielle Waffenruhe gegeben. Dieses Mal wusste niemand, ob wieder ein Befehl existierte, den Beschuss einzustellen, oder ob ein stillschweigendes Einvernehmen bestand, draußen war es jedenfalls ruhig.

Es konnte sich später keiner seiner Kameraden so recht erklären, weshalb Paul das tat, was er dann tat. Am allerwenigsten wohl er selbst. Vermutlich dachte er daran, dass auch die Soldaten der Roten Armee darunter litten, Weihnachten im Dreck liegend verbringen zu müssen, fern ab ihrer Familien, den Tod immer vor Augen, und zwar den eigenen, aber auch den der Angehörigen.

Wahrscheinlich war  es aber eher der Alkohol, der Paul leichtsinnig werden ließ und ihm im wahrsten Sinne des Wortes die Zunge lockerte. Dabei war er noch nicht einmal dran mit der Wachablösung. Er ging trotzdem auf den wachhabenden Soldaten seiner Einheit zu, und er tat es noch immer singend. Er sang jetzt mit fester Stimme, artikulierte die Worte akzentuiert und klar. Die Melodie hatte sich verändert. Der Text ebenfalls.

Singend trat er aus dem Schutz der zerstörten alten Sommerresidenz und näherte sich weiter als je zuvor den russischen Gefechtsstationen, ignorierte dabei den leisen, aber insistierenden Ruf des wachhabenden Soldaten. Zögerlich waren seine Schritte, die Schultern leicht nach oben gezogen.

Es könnte sein, dass sie mich erschießen, dachte er. Ich spiele hier durchaus mit meinem Leben.

Er bewegte sich langsam an der Linie, die die deutschen Soldaten von den russischen trennte, auf und ab.
Er tat all dies singend, mit einer tiefen, sehr berührenden Stimme, jedes Wort eine Liebeserklärung an die Heimat, wehmütig, bittersüß.

Es steht ein Soldat am Wolgastrand,
Hält Wache für sein Vaterland.
In dunkler Nacht allein und fern,
Es leuchtet ihm kein Mond, kein Stern.
Regungslos die Steppe schweigt,
Eine Träne ihm ins Auge steigt:
Und er fühlt, wie's im Herzen frißt und nagt,
Wenn ein Mensch verlassen ist.

Paul Jungblut lief über den vereisten, glitzernden Schnee, vollkommen schutzlos und gut sichtbar für den Feind, und sang aus voller Kehle das Wolgalied.

Und wider Erwarten wurde er nicht erschossen.

The Soulcollector - Rätselhafte TodesfälleWhere stories live. Discover now