Kapitel 20 - Stanislas Kowalski

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Richie war aufgeregter, als er eigentlich sein wollte. Den ganzen Tag hatte er sich immer wieder in Erinnerung gerufen, dass dies ein ganz harmloses Treffen sein würde, mit dem Ziel, wieder normal und entspannt miteinander umgehen zu können. Das hatte er sich wie ein Mantra vorgebetet.

Dennoch konnte er nicht verhindern, dass seine Gedanken sich verselbstständigten und eine ganz andere Richtung einschlugen.

Sein Kopfkino zeigte ihm Szenen, in denen er und Dee sich in der untergehenden Sonne näher kamen. Er sah sich ihre Hand nehmen und sie zu sich ziehen, fand sich in ihren grünen Augen wieder, umfasste ihren Nacken und legte zärtlich seine Lippen auf ihren vollen Mund.

Jake kam in seinem privaten Wohlfühl-Movie übrigens nicht vor, außer in der  einen Version, in Richies Directors-Cut. In dieser Ausgabe gestand Jake Dee, dass aus ihnen niemals etwas werden könnte, weil er in Wahrheit auf Jungs stand.

Ein wenig beschämt zwang sich Richie zurück auf den Boden der Tatsachen und nannte sich innerlich einen Vollidioten. Er war nichts weiter als ein guter Kumpel für Dee!

Schließlich zog er seine kurze Levisjeans und einen weißen Nikesweater an, holte sein Bike aus der Garage und machte sich auf den Weg. Als er den Strand erreichte, war Dee schon da. Er sah sie vorne am Wasser stehen, die Wellen umspielten ihre nackten Füße. Sie trug einen übergroßen Ringelpulli und kurze Shorts, die ihre langen, schlanken Beine hervorragend zur Geltung brachten. Der Wind zerzauste ihr das Haar und ließ sie ein bisschen verletzlich aussehen.

Das ist unfair, dachte Richie, sie sieht so wunderschön aus und ich muss jetzt so tun, als ob sie mir egal wäre.

Und da war es auch schon wieder, dieses altbekannte Gefühl der Unzulänglichkeit, das ihn gerne in Dees Nähe überfiel. Er war nun mal nicht besonders groß, weshalb er nicht sofort auffiel. Man würde ihn wohl nicht unbedingt als Hottie bezeichnen, eher als cute. Das steigerte sein Selbstbewusstsein nicht gerade, und er vergaß dann auch gerne, dass er ein herausragender Sportler war, der noch dazu eine Menge im Kopf hatte.

Eigentlich wollte er rufen, aber irgendwie brachte er keinen Ton heraus. Also lief er zum Wasser, unbemerkt, da der Wind und die Wellen alle anderen Geräusche verschluckten. Als er plötzlich neben ihr stand, zuckte Dee heftig zusammen. Ihre Augen weiteten sich erschrocken, aber als sie realisierte, dass er es war, zauberte das ein Lächeln auf ihr sonnengebräuntes Gesicht. „Rich! Du hast mich erschreckt", rief sie. „Sorry", sagte er und hob entschuldigend beide Hände. „Aber waren wir nicht verabredet?"

Sie lachte, strich sich die Haare aus dem Gesicht und sagte: „Ich bin so froh, dass du gekommen bist."

Richie wandte schnell das Gesicht zur Seite, damit sie nicht merkte, wie sehr ihn diese Aussage freute. Zu einfach wollte er es ihr auch nicht machen. Er war jetzt hier, weil er die gegenseitige Funkstille nicht länger ertrug. Naja, und wegen des winzigen Prozentsatzes, der für die Möglichkeit stand, dass sein Drehbuch von vorhin doch noch ein Happy-End beinhaltete.

Wie auch immer, für die entstanden Funkstille gab es einen Grund, auch wenn Dee vielleicht nicht wissentlich zu diesem beigetragen hatte. Er würde einfach vorsichtig sein mit der Investition irgendwelcher Emotionen.

„Hey, du musst mir bitte erzählen, wie du an dem Abend nach Hause gekommen bist", rief sie aus und riss ihn damit aus seinen Grübeleien. Richie rollte mit den Augen, milderte die Reaktion jedoch durch ein Lächeln. „Oh nee, lass uns bitte von was anderem reden!"

„Okaaaay", antwortete Dee, und überlegte dann, ob sie jetzt schon den Kapuzenmann thematisieren konnte. Doch nur der bloße Gedanke daran ließ es ihr eiskalt den Rücken hinunterlaufen. Plötzlich war ihr wirklich jedes Thema recht, bloß nicht dieses. Schließlich sagte sie : „Ich hatte mich ernsthaft gefragt, ob du ein bisschen surfen für den Wettkampf mit mir üben würdest."

Richie sah sie überrascht an und erwiderte nun seinerseits: „Ernsthaft?", was sie beide zum Lachen brachte. Ganz langsam verschwand das eisige Gefühl, das sie gerade noch so deutlich verspürte, und wich der vertrauten Unbeschwertheit, die sie früher immer in Richies Gegenwart empfunden hatte.

***

In der selben Nacht, die auf den Abend folgte, an dem Dee und Richie sich vorsichtig wieder annäherten, träumte Christina zum ersten Mal von dem Typ im Kapuzenpulli. Oder, so wie Jake ihn bezeichnet hatte, von dem weirden Kerl, der uns stalkt. Nur dass Christina nicht dieses namenlose Entsetzen empfand, das der Mann ohne Gesicht bei ihren Freunden hervorgerufen hatte. Eher verspürte sie eine gewisse Verbundenheit, so als ob sie Seelenverwandte wären. Unverstandene, immer auf der Suche nach dem einen Menschen, der endlich ihren wahren Wert erkennen möge. Es störte Christina auch nicht im Geringsten, dass sie im Traum das Gesicht des Mannes nicht sah. Im Gegenteil, das erhöhte ihre Neugierde und den Wunsch nach einem weiteren Traum, der ihr dann vielleicht erlaubte, einen tieferen Einblick zu bekommen und hinter die Fassade des geheimnisvollen Kapuzenmannes zu blicken.

***

Stanislas Kowalski kam 1975 mit seinen Eltern aus Polen in die USA. Der damals 6 Jährige hieß fortan Stanley, und aus Kowalsky wurde - der Einfachheit halber, behaupteten seine Eltern - Kowac. Nicht, dass er den Namen Stanley nicht mochte, ganz und gar nicht. Aber die Änderung seines Namens war für ihn gleichbedeutend mit dem Ablegen seiner Herkunft. Wie eine Schlange, die sich häutet, legte Stanislas mit dem Umzug in die USA und mit der damit einhergehenden Namensänderung seine polnische Identität ab.

Seine Eltern taten alles dafür, sich gut in ihre neue Heimat zu integrieren. Das zeigte sich in vielen Dingen, in der Art, wie sie sich kleideten, wie sie ihre bescheidene Wohnung einrichteten, aber leider auch im Vernachlässigen lieb gewonnener Rituale, die sein Zuhause erst zu einem Zuhause gemacht hatten.

Was Stanley aber am schlimmsten fand, war die Tatsache, dass sich mit dem Umzug anscheinend auch die Einstellung zum Kochen geändert hatte. Früher hatten seine Eltern oft gemeinsam stundenlang in der Küche gestanden, aufwändige Speisen vor- und dann zubereitet, die sie alle zusammen am Esstisch vor dem Kamin eingenommen hatten. Doch vieles, was in Polen zu den Grundnahrungsmitteln gehörte, gab es hier in Kalifornien nicht mal. Quark zum Beispiel, Grundzutat so vieler leckerer Gerichte. Oder, fast noch schlimmer, Brot. Hier fand man nur weiches Toastbrot, das dazu auch noch abgepackt war. Und die Milch gab es in hundert verschiedenen fettreduzierten Abstufungen, in riesigen Plastikflaschen. Alles hatte sich verändert und war ihm fremd geworden. Und obwohl seine Eltern so krampfhaft bemüht darum waren, waschechte Amerikaner zu werden, fanden sie genauso wenig Zugang zu dem Land und dessen Kultur wie er selbst.

***

Richie war es wesentlich leichter ums Herz als noch während der letzten Wochen. Am Abend ihres Treffens waren er und Dee noch eine Weile am Strand spazieren gewesen und sie hatten sich überlegt, dass es vielleicht gar keine so schlechte Idee sein könnte, wenn er ihr ein paar Übungen zeigte, die ihr Gleichgewicht stärken würden. Auf diese Weise konnte er sich nebenbei sogar selbst noch ein bisschen vorbereiten.

Und so kam es, dass sie sich ganz vorsichtig wieder einander annäherten. Zwar hielt sich Richie in der Schule weiterhin zurück, stand in den Pausen noch immer mit Jordan und einigen anderen aus seinen Kursen zusammen, während er vorgab, Dee nicht zu bemerken, aber der erste Schritt war getan.

Zwei Tage später trafen sie sich zu ihrer ersten offiziellen Trainingseinheit.

Und obwohl Richie sich vorgenommen hatte, diesem Treffen nicht zu viel Bedeutung beizumessen, es schon gar nicht als Date anzusehen, konnte er einfach nicht verhindern, dass er schon allein beim Gedanken daran äußerst nervös wurde. Ein paar Mal war er sogar kurz davor, Dee wieder abzusagen. Aber das brachte er in letzter Konsequenz dann doch nicht übers Herz. Stattdessen gab er sich große Mühe, diesem Treffen einen sportlich professionellen Anstrich zu geben, weshalb er gewissenhaft Übungen für Dee vorbereitet hatte.

Von abendlichen Aktivitäten mit seinen alten Freunden hielt er sich allerdings weiterhin fern, vorerst jedenfalls.

Nicht, weil er plötzlich keine Lust mehr zum Feiern hatte, sondern weil die Erinnerung an den Ballabend ihm noch immer zu schaffen machte, und er nicht vorhatte, in naher Zukunft wieder so eine Pleite zu erleben. Selbst als Jordan vorschlug, mal wieder was mit den anderen zu machen, schob Richie eine Familienfeier vor, die es zwar tatsächlich gab, zu der er aber nicht zwingend hätte hingehen müssen.

The Soulcollector - Rätselhafte TodesfälleWhere stories live. Discover now