Kapitel 18 - Annäherungsversuche

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Während der Zugfahrt zurück nach Ventura starrte Dee die meiste Zeit aus dem Fenster und betrachtete die vorbeiziehende Landschaft. Sie hatte darauf verzichtet, sich die Kopfhörer ins Ohr zu stecken und versuchte stattdessen, sich eine Strategie zurecht zu legen, mit welcher sie am einfachsten und vor allem am unauffälligsten wieder Kontakt zu Richie aufnehmen konnte. Zunächst überlegte sie, ihn um Nachhilfe im Surfen zu bitten. Er gehörte zu den besten Surfern am Ventura Beach und es war jetzt schon klar, dass sein Team den Schulcontest gewinnen würde. Sicher würde es ihm schmeicheln, wenn sie ihn fragen würde, ob er den ein oder anderen Move mit ihr übte. Dann allerdings fand sie diese Anfrage viel zu plump. Richie war ja nicht blöd, ganz so einfach wäre er sicher nicht bereit, sich mit ihr zu treffen, nachdem sie nun bald drei Wochen gar nicht miteinander gesprochen hatten. Sie fischte ihr Mobiltelefon aus ihrem Rucksack, öffnete den Messenger, zögerte dann aber, Richards Kontakt aufzurufen. ,Herrgott nochmal, was könnte ich denn nur schreiben, das kann doch nicht so schwer sein', dachte sie ungeduldig. Ärgerlich über sich selbst warf sie das Telefon zurück in ihren Rucksack, nur um es wenige Minuten später wieder herauszuholen. Schließlich gab sie sich einen Ruck, rief Richards Kontakt auf und begann eine Nachricht zu verfassen.

„Hi Rich, ich...."

Nein, blöder Anfang. Vielleicht besser:

„Lieber Richie",

viel zu förmlich, dachte sie. Also gut, dann eben:

„Hi Richie, es tut mir leid, dass wir kaum noch Kontakt haben. Können wir das nicht ändern?"

Diesmal wartete sie nicht ab, ob ihr noch andere Formulierungen einfielen, sondern tippte entschlossen auf Senden.

***

Richie saß mit Jordan auf einer kleinen Mauer direkt am Eingang zum Hauptstrand, als Dees Nachricht eintraf.

Verblüfft hielt er Jordan sein Telefon vor die Nase, damit er sie lesen konnte.

„Jetzt gib bloß nicht nach!", sagte Jordan sofort.

Richie, der sein plötzliches Herzstolpern tapfer ignorierte, fragte: „Meinst Du, ich soll mich nicht mit ihr treffen oder was?"

„Ich würde ihr nicht mal zurückschreiben", antwortete Jordan. „Lass sie ruhig mal zappeln."

Richie ließ sein Telefon eine Weile ungenutzt auf seinem Oberschenkel liegen, während er das bunte Treiben an der Strandpromenade beobachtete. Pärchen liefen lachend und Händchen haltend vorüber. Familien, bepackt, als wollten sie ganze Nächte am Strand verbringen, bevölkerten den Abschnitt, an dem auch ein großer Spielplatz genutzt werden konnte. Jogger trainierten hier fleißig und mehr oder weniger diszipliniert. Die Sommersaison war bereits in vollem Gange.

Ob er es sich nun eingestehen wollte oder nicht, er hätte viel dafür gegeben, Dee wieder in seinem Leben zu haben. Aber das Gefühl, von ihr verarscht worden zu sein, nagte noch immer an ihm, so dass er Angst hatte, sich ihr ein weiteres Mal zu öffnen. Deshalb nahm er sein Mobiltelefon und tippte eine kurze Nachricht, die er ohne zu Zögern versendete.

***

Dee zuckte zusammen als ihr Telefon vibrierte. Schnell warf sie einen Blick darauf und registrierte, dass Richie ihr geantwortet hatte. Ihr Magen verknotete sich. Es erstaunte sie, wie nervös Richie sie immer noch machen konnte. Sie zwang sich, einige Minuten abzuwarten, bis sie seine Nachricht las.

„Wozu, Dee?"

Sie schluckte. Das war nicht die Antwort, die sie sich erhofft hatte. Eigentlich hätte sie etwas anderes erwartet. Dass Richie nicht gleich angerannt kam, wenn sie ihn darum bat, das war ihr schon klar gewesen. Aber eine derartig knappe und unhöfliche Antwort?

Ihre erste Reaktion war, ihn aus ihren Kontakten zu löschen und am besten auch gleich aus ihrem Gedächtnis zu streichen. Aber sie hatte noch genug Menschenkenntnis um zu wissen, oder vielleicht eher zu fühlen, dass diese Reaktion gar nicht Richards Charakter entsprach und seine Antwort viel mehr zeigte, wie verletzt er noch immer war. Sie glaubte, dies hier konnte dennoch ihre Chance sein, ihre Freundschaft wiederzubeleben. Es dauerte eine Weile, bis sie eine weitere Nachricht formuliert hatte: „Lass uns doch einfach mal wieder treffen und es herausfinden. Bitte."

***

Richard antwortete nicht sofort. Er wollte sich auch vor Jordan nicht die Blöße geben. Natürlich hatte Jordan nicht Unrecht. Vielleicht hätte er auf ihn hören und Dee erstmal überhaupt nicht antworten sollen. Aber er hatte es satt, ständig so zu tun, als wäre es ihm vollkommen gleichgültig, dass ihre Freundschaft zerbrochen war. Er war froh, dass sich hier eine Möglichkeit bot, diesen Zustand zu ändern. Aber das wollte er vor Jordan nicht zugeben. Aus diesem Grund wartete er noch ganze zwei Stunden ab, bis er Dee zurück schrieb - so lange nämlich, bis er und Jordan ihren Versuch beendet hatten, sich gegenseitig in die Karten zu schauen, welche Manöver der jeweils andere für den Surfcontest geplant hatte. Auf dem Heimweg, den sie zu Fuß zurücklegten, gestand Jordan Richie dann noch, dass Annes Eltern am Wochenende nicht zu Hause waren, so dass er zum ersten Mal bei ihr übernachten würde. „Dann ist sie fällig", sagte Jordan sehr trocken, aber seine Ohren, die urplötzlich eine beängstigend rote Farbe angenommen hatten, straften seine lockeren Worte Lügen. Richie grinste teilnahmsvoll, freute sich ehrlich für seinen Kumpel, verspürte aber gerade besonders deutlich diese innere Leere, die ihn seit dem Zerwürfnis mit Dee fast jeden Tag begleitete.

Zurück in seinem Zimmer nahm er sein Mobiltelefon zur Hand und überlegte, was er auf Dees letzte Nachricht antworten könnte. Er fand es mutig, was sie geschrieben hatte, und wenn er ehrlich war, fühlte er genau das gleiche. Auf der anderen Seite blieb allerdings der Gedanke an Jake. Es war Richie natürlich nicht verborgen geblieben, dass Jake ständig in Dees Nähe war. Im Grunde ließ das nur einen Schluss zu, nämlich, dass die beiden bereits ein Paar waren, oder aber es in Kürze werden würden. Welche Rolle hatte sie ihm denn dann zugedacht? Die des guten Freundes, zu dem man kommen konnte, wenn mal wieder alles schief lief? Wollte er sich damit begnügen?

Getreu dem Motto „Rom ist auch nicht an einem Tag erbaut worden", entschied Richie schließlich, sich und Dee noch eine Chance zu geben. Dee und Richie 2.0 sozusagen.

Er öffnete ihren Kontakt und schrieb: „Ok, wenn Du möchtest, können wir uns morgen Abend treffen."

The Soulcollector - Rätselhafte TodesfälleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt