Kapitel 38 - Coffee and Chocolate Tarte

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Inzwischen hatte die Nachricht von Annes Fahrradunfall auch in der Schule die Runde gemacht. Weshalb Anne jedoch die Kontrolle über ihr Bike verloren hatte, darüber konnte nur spekuliert werden. Eine mysteriöse Gestalt im Hoodie kam allerdings in keiner der Vermutungen vor.

Als Isabelle das Thema während der Pause bei Allegra und Dee ansprach, und im nächsten Atemzug sogar vorschlug, man könne doch Anne einen Krankenbesuch abstatten, wurde Dee klar, dass sie ihre Freundinnen einweihen musste. Doch allein der Gedanke daran ließ das mittlerweile schon vertraute, eisige Gefühl im Magen emporsteigen. Sie spürte ein Brennen in der Kehle, wie von zu viel Magensäure, und musste heftig schlucken, um zu verhindern, dass sie sich gleich über die dekorativen Blumenbeete mit den akkurat gepflanzten Buschanemonen übergab. Das wäre sicher kein schöner Anblick, wenn die zartweißen Blüten plötzlich Sprenkel in einer undefinierbaren Farbe hätten.

Sie räusperte sich und sagte dann zögerlich: „Ich würde euch gern was erzählen. Habt ihr Zeit heute Nachmittag? Ich hole uns auch was von Ficelle."

„Wir können doch vielleicht was backen", schlug Allegra vor, pragmatisch wie immer.

„Es macht mir wirklich gar nichts aus", erwiderte Dee.

„Also, gegen Zitronen-Blueberry-Muffins oder diese Wahnsinns-Chocolate-Tarte hätte ich nichts einzuwenden", warf Isabelle ein, „aber, was möchtest du uns überhaupt erzählen? Gibt es eine neue Entwicklung in deinem Leben, von der wir noch nichts wissen?" Sie wackelte übertrieben mit den Augenbrauen.

Dee brachte ein Lächeln zu Stande, einem gewissenhaften Beobachter wäre jedoch aufgefallen, wie nervös sie ihre Fingerkuppen aneinander rieb, und wie unruhig ihr Blick hin und her wanderte.

Ach wäre sie doch ein ganz normaler Teenager, dann hätte sie wirklich erzählen können, dass sie von Jake einen ausgesprochen heißen Kuss erhalten hatte, was Allegra und Isabelle sicher mit ungläubigen, vielleicht auch anzüglichen Ahs und Ohs kommentiert, sie möglicherweise auch gedrängt hätten, ins Detail zu gehen, und es wäre dennoch ein so herrlich harmloser Gesprächsstoff geblieben.

Aber - und das wusste sie jetzt sicher - sie war alles andere als ein normaler Teenager.

„Wie lange haben wir uns nicht mehr getroffen? Außerdem habe ich auch Lust auf die Chocolate-Tarte von Ficelles. 16:00 Uhr bei mir?"

„Bin dabei", sagte Isabelle ohne zu zögern, und auch Allegra war sofort einverstanden.

***

Dee entfernte das Papier, in das die Backwaren eingeschlagen waren, und stopfte es in den überfüllten Mülleimer. Vorsichtig schob sie einen Tortenheber unter den Keksboden eines der Stücke Chocolate-Tarte, und beförderte es geschickt auf die gläserne Tortenplatte.

Die Kaffeemaschine gab zur Unterstützung brodelnde Zischlaute von sich und begleitete misstönend Taylor Swift, deren Stimme aus der Musikbox drang.

Like snow on the beach
Zisch, zisch
Like Snow, oh oh
Zisch, zisch

„Hm, hier riecht es aber gut, gibt es denn was zu feiern?"

Ihr Vater trat plötzlich hinter sie und begutachtete die Tortenplatte, die mittlerweile komplett bestückt mit Blueberry-Lemon-Muffins und drei Stück Chocolate-Tarte auf der Küchenanrichte stand.

„Isabelle und Allegra kommen jetzt vorbei. Das haben wir schon lange nicht mehr gemacht, und jetzt, kurz vor den Ferien, haben wie endlich mal Zeit für sowas", erwiderte Dee und bemühte sich, ihrer Stimme einen gelassenen Tonfall zu geben.

Alberto Garcia beugte sich vor und schnupperte an den Blueberry-Lemon-Muffins, die zugegebenermaßen mit den buttrigen Streuseln, den saftigen Blaubeeren und den gezuckerten Dekorlimetten ausgesprochen appetitlich aussahen.

„Na, dann will ich euch aber nicht stören, mein Schatz. Ich ziehe mich zurück", sagte er, mit einem letzten wehmütigen Blick auf die verlockende Kuchenauswahl.

Dee öffnete die Tür des Hängeschranks, entnahm ihm einen vierten Teller, legte einen der drei Muffins darauf und reichte ihn ihrem Vater.

„Keine Widerrede", verlangte sie, als er kopfschüttelnd ablehnen wollte.

Ich habe sowieso keinen Hunger, bei dem, was gleich auf mich zukommt.

Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Anrichte der hochwertigen Kücheninsel und beobachtete, wie ihr Vater mit dem Teller in der Hand durch das geräumige Wohnzimmer lief, um sich wieder irgendwohin zurückzuziehen. Fast empfand sie so etwas wie Neid. Liebend gern würde sie sich jetzt auch auf ihr Bett legen und schlafen, oder Netflix schauen, ja sogar Hausaufgaben erledigen würde sie vorziehen. Alles, nur nicht dieses furchtbare Gespräch führen, das sich nicht mehr aufschieben ließ.

Die Türklingel machte ihr klar, dass es Zeit wurde, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Keine weitere Möglichkeit für einen Aufschub.

Isabelle stand vor der Haustür, von Allegra war allerdings noch nichts zu sehen.
„Hey, komm rein", sagte Dee und drückte die Tür noch ein gutes Stück zur Seite, um Isabelle eintreten zu lassen. Prüfend blickte sie dann auf ihre schmale, goldfarbene Armbanduhr, deren Ziffernblatt zwei winzige Zirkoniasteinchen zierten.
„Allegra scheint sich zu verspäten, ich rufe sie mal an, nicht, dass sie verpennt."
Isabelle nickte grinsend. „Ja, das würde ihr ähnlich sehen."

***

Allegra schob ein wenig hektisch ihr Rad aus der Garage, während sie mit ihrer großen Umhängetasche kämpfte, deren breiter Trageriemen ihr ständig von der Schulter rutschte. Zornig streifte sie ihn zurück.

Sie war spät dran, weil sie unbedingt die letzten zwei Kapitel von The Great Gatsby zu Ende lesen wollte. Natürlich freute sie sich auf das Treffen mit ihren Freundinnen, und dennoch hatte sie sich zwingen müssen, den Roman aus der Hand zu legen, um pünktlich bei Dee einzutreffen. Sie konnte sich in solchen Geschichten regelrecht verlieren, so sehr, dass es ihr schwer fiel, in die Realität zurückzukehren. Das waren Momente, in denen ihr das eigene Leben fade vorkam.

Ein wenig unmotiviert schwang sie sich auf ihr Rad und trat in die Pedale. Gepflegte Vorgärten, üppig blühende Sträucher und hellgepflasterte Einfahrten zogen träge an ihr vorbei.

An der Ecke Shamrock Lane hielt sie an, um einen Truck vorbeifahren zu lassen. Dann bog sie rechts ab auf die Los Olivos Lane und erhöhte das Tempo. Lautes Hupen und das Röhren eines Motors drangen in ihr  Ohr. Diese penetranten Geräusche, die von Hektik und Eile zeugten, machten sie nervös und sie war froh, das erhöhte Verkehrsaufkommen hinter sich zu lassen, als sie die wesentlich ruhigere Garden Street erreichte.

Am Ende der Straße, dort wo sie links auf die Stanley Ave abbiegen müsste, um über eine schmale Brücke den Arroyo Grande zu überqueren, stand ein Typ in einem dunklen Kapuzenpulli.

Allegra bremste ab, wozu es eigentlich keinen Anlass gab, denn der Junge - jedenfalls würde sie ihn aus dieser Entfernung als jung einschätzen - stellte kein Verkehrshindernis dar, er lehnte lediglich gelassen an einer Steinmauer, die den Garten eines Bungalows von der Straße abgrenzte.

Allegras Herzschlag beschleunigte sich. Ihr Mund wurde trocken. Eine innere Blockade hielt sie davon ab, weiterzufahren.

Obwohl sich alles in ihr sträubte, nahm sie den Mann in dem dunklen Sweater näher in Augenschein. Und in diesem Moment drehte er ihr das Gesicht zu und lehrte Allegra das kalte Grausen. Denn so sehr ihre Augen auch irgendeine entsprechende Information an ihr Gehirn weiterleiten wollten, sie blickten doch nur in eine grauenvolle Leere. In eine Kapuze ohne Gesicht.

Sie schrie, obwohl ihr diese Reaktion ein wenig überzogen vorkam.

In diesem Augenblick klingelte ihr Telefon. Es dauerte einen kurzen Moment, bis sie realisierte, dass die Melodie von Taylor Swifts Karma aus ihrer Tasche tönte. Irritiert wandte sie den Blick ab, nicht sicher, ob sie in der Lage sein würde, jetzt einen Anruf anzunehmen. Und doch griffen ihre Finger fast automatisch nach ihrem IPhone.

„Allegra, bist Du dran?"

Das war Dees Stimme.

Wie in Zeitlupe sah Allegra nun wieder zu der Mauer hin, an der sich das gesichtslose Wesen angelehnt hatte. Aber da stand niemand mehr.

The Soulcollector - Rätselhafte TodesfälleKde žijí příběhy. Začni objevovat