Kapitel 8 - Der Abend des Balls

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Richards Mutter hielt ihm den Schlips hin und wartete geduldig, bis er sich sein weißes Hemd zugeknöpft hatte.

„Warum bist du so nervös, du siehst gut aus!", sagte sie stolz.

Richie warf einen skeptischen Blick in den Spiegel. Ausgerechnet heute verselbstständigten sich offenbar seine Haare und standen am Hinterkopf unbelehrbar ab. Er hatte es erst mit Wasser, dann mit Gel und Haarspray versucht, immer wieder schnellten sie zurück in eine unvorteilhafte Antennenposition.

„Komm mal mit!" Sein älterer Bruder packte ihn am Arm und zerrte ihn ins Badezimmer, wo er eine Handvoll Wasser auf Richies Hinterkopf klatschte und dann den Haartrockner zu Hilfe nahm, um die widerspenstigen Strähnen zu bezwingen. Es gelang ihm gut, auch wenn das weiße Anzugshemd gleich mit geföhnt werden musste.

„So, und jetzt hau rein Alter!" Grinsend schlug er Richie auf die Schulter.

***

Dee stand vor dem Ganzkörperspiegel in ihrem Zimmer und betrachtete sich kritisch. Das Kleid passte wie angegossen, die Corsage brachte ihre schmale Taille perfekt zur Geltung. Der sehr tiefe Rückenausschnitt bereitete ihr jedoch ein wenig Sorge, er ging gerade so durch, ohne zu sexy zu wirken. Trotzdem, das Kleid war atemberaubend. Dee zog probeweise die silberfarbenen Pumps an, die sie passend dazu erstanden hatte. Schlichter Silberschmuck rundete ihr Outfit ab.

Sie griff nach der kleinen Clutch, die sie sich letztes Jahr irgendwann mal bei Casual Corner gegönnt hatte, lief die Treppe hinab und klopfte an die Tür des Arbeitszimmers, in dem sich ihr Vater seit dem tödlichen Unfall ihrer Mutter mehr oder weniger verschanzte. Trotzdem verzog sich sein Gesicht voller Stolz und Freude, als er seine Tochter sah.

„Du siehst wunderschön aus", sagte er anerkennend, „und ich habe dich nicht mal gefragt, mit wem Du tanzt."

„Ein Junge aus meinem Jahrgang. Er ist nett, du würdest ihn mögen", antwortete Dee.

„Ah, das glaube ich weniger", sagte Dees Vater mit einem verschmitzten Grinsen. Ab und an blitzte noch sein Humor auf, den sie so gemocht hatte und den sie sehr vermisste.

Alberto Garcia umarmte seine Tochter und gab ihr einen Kuss auf die fachmännisch frisierte Haarpracht. „Mach Dir einen schönen Abend. Und sei vorsichtig!"

Und schon hatte er sich wieder seinem Schreibtisch zugewandt und die Welt da draußen ausgeschlossen. Dee kannte es nicht anders. Ein paar Sekunden blieb sie noch im Türrahmen stehen und betrachtete die zusammengesunkene Statur ihres Vaters. Der Anblick machte sie traurig. Schnell griff sie nach der Klinke und schloss leise die Bürotür hinter sich.

Sie packte Pumps sowie ihre Clutch samt Inhalt in einen Rucksack und zog sich ihre Chucks mit der dicken Sohle an. Dann löschte sie das Licht im Flur, zog die Haustür hinter sich zu und machte sich zu Fuß auf den Weg zum knapp eine Meile entfernten Schulgebäude.

Sie war etwa zwei Blocks gelaufen, als ihr trotz ihres flotten Tempos plötzlich eisig kalt wurde. Unwillkürlich rieb sie sich über ihre Oberarme und sah dabei über die Schulter, obwohl sie sich sicher war, dass ihr niemand folgte. Sie blickte nach links und registrierte erleichtert, dass auch hier nichts Bedrohliches zu erkennen war. Im Gegenteil, in jedem Haus brannte Licht, und sie konnte schattenhafte Bewegungen hinter den Fenstern ausmachen.

Sie schaute nach rechts - und da stand plötzlich jemand. Dee bremste abrupt ab. Sie hätte schwören können, dass da vor zwei Sekunden noch niemand gewesen war. Etwa drei Meter vor ihr lehnte an einer Gartenmauer eine dunkel gekleidete Person, eine Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Allerdings passte die Redewendung „ins Gesicht gezogen" irgendwie nicht, denn, so oft Dee auch später über diese Begegnung nachdachte, sie konnte sich nicht erinnern, dass die Gestalt ein Gesicht gehabt hätte. Nicht einmal Umrisse hatte sie unter der Kapuze ausmachen können. Eine Gestalt mit einer vollkommen leeren Kapuze.

Namenloses Entsetzen erfasste sie, und für einen kurzen Augenblick war sie wie gelähmt. Es fühlte sich an, als würde sie abseits stehen und sich selbst beobachten, wie sie bewegungsunfähig darauf wartete, dass der „Mann ohne Gesicht" ihrem Leben mit einer grausamen Lässigkeit ein Ende setzen würde. Dabei konnte sie nicht feststellen, ob er sie ansah oder nicht. Aber vielleicht war es gerade das völlige Fehlen irgendeiner menschlichen Reaktion, was die ganze Situation noch unerträglicher machte. Keine Mimik, kein Aufblitzen der Augen! Wie auch? Es ließ sich nicht erkennen, was sich unter der Kapuze verbarg.

Dann plötzlich schoss das Adrenalin durch ihren Blutkreislauf, ihr Kopf wurde wieder klar, der ganze Körper schaltete auf Alarmbereitschaft. Sie machte einen Schlenker nach links und rannte auf eines der beleuchteten Häuser zu. Sie stolperte die Treppe hinauf, fand den Klingelknopf und drückte ihn so fest, dass ihr der Fingernagel dabei abbrach.

Von drinnen nahm sie Schritte wahr, trotzdem schien es viel zu lange zu dauern, bis sich endlich die Türe öffnete. Dee machte einen großen Schritt nach vorne und stand ungebeten im Flur des Hauses.

„Hoppla, junge Dame!"

Eine ältere Frau, die eine Brille trug und die Haare zu einem lockeren Dutt hochgesteckt hatte, stellte sich ihr resolut in den Weg.

„Was kann ich denn für dich tun?", fragte sie nicht unfreundlich, ihre Haltung strahlte jedoch unmissverständlich aus, dass sie mit Dees Eindringen nicht einverstanden war. Dee blickte zurück zu der Stelle wo der Kapuzenmann gestanden hatte. Doch jetzt konnte sie dort niemanden mehr erkennen.

„Ich, ich...", stammelte sie und deutete zur anderen Straßenseite hinüber. Die alte Dame hob fragend die Augenbrauen. Dee versuchte sich zu sammeln.

„Bitte entschuldigen Sie, mich hat gerade jemand belästigt. Aber jetzt scheint er weg zu sein."

Die Hausbesitzerin blickte immer noch ein wenig skeptisch. „Wir können die Polizei anrufen", schlug sie vor.

Dee schüttelte den Kopf. Sie lehnte sich kurz gegen den Türrahmen und atmete zitternd ein, bevor sie entgegnete:

„Ich glaube er ist weg. Vielen Dank, dass Sie mir aufgemacht haben. Ich denke, ich gehe jetzt einfach, ich habe es nicht weit."

Die alte Dame schien nun erleichtert, dass Dee sie nicht überfallen wollte und bot ihr an, draußen zu warten, bis sie ohne weitere Zwischenfälle die nächste Straßenecke erreicht hatte.

Dee legte die wenigen hundert Meter bis zum Schulgelände im Vollspeed zurück, was dazu führte, dass sie leicht derangiert eintraf. Richie, der mit dem Fahrrad gekommen war, wartete schon auf sie und war etwas irritiert, als sie mit einem gehetzten Gesichtsausdruck um die Ecke gerannt kam. Die sorgfältig gedrehten Locken hatten sich aus der Hochsteckfrisur gelöst und fielen ihr nun ins Gesicht. Ihre Augen glühten. Und trotzdem - vielleicht aber auch gerade deshalb - sah sie bezaubernd aus in Richies Augen.

„Ist was passiert?", fragte er besorgt.

„Auf dem Weg hier her stand da plötzlich ein Typ, auf einmal, also ich meine, gerade war da noch keine Menschenseele und dann steht da einer! So'n Kerl mit ‚nem Hoodie."

Alarmiert sah Richie auf. „So'n dunkler Typ? Ich glaube, den habe ich auch schon mal gesehen, unten am Strand!"

Dee fing erneut an zu zittern. „Lass uns bitte rein gehen, mir ist kalt", bat sie, aber Richie, der sich an den Horror erinnerte, den er selbst empfunden hatte, damals alleine auf dem Strandweg, hielt sie am Unterarm fest und meinte: „Nein, warte doch mal, erzähl mir erstmal mehr darüber."

Aber Dee wollte plötzlich nicht mehr darüber sprechen, sie wollte eigentlich noch nicht mal mehr darüber nachdenken. Jetzt gerade wünschte sie sich nur, einen schönen, unbeschwerten Abend zu verbringen. „Später vielleicht, aber nicht jetzt. Wir kommen sonst zu spät." Sie setzte sich auf die Stufen der Eingangstreppe und tauschte ihre Chucks gegen die silberfarbenen Highheels. Als sie jetzt aufstand war sie genauso groß wie Richie.

The Soulcollector - Rätselhafte TodesfälleWhere stories live. Discover now