Kapitel 30 - Der Teufel ist ein Eichhörnchen

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Der Teufel hat viele Gesichter. Auch den Zufall.
Edward Blanck

Ventura 1983

Stanley besuchte mittlerweile die El Camino Highschool, eine staatliche Schule, die im Hinterland Venturas lag. Das Schulgebäude setzte sich aus mehreren flachen Sandstein-Häusern zusammen, die sich auf einem kleinen Campus hufeisenförmig um eine schöne Wasseranlage mit mindestens dreißig unterschiedlichen Fontänen reihten. Auf dem gesamten Campus-Areal waren vor Jahren mehrere Palmen gepflanzt worden, die mittlerweile eine beachtliche Größe erreicht hatten. Als Schüler hatte man die Möglichkeit, seine Pause in diesem sehr kreativ angelegten Gartenbereich zu verbringen, und häufig wurden hier auch ganze Unterrichtsstunden abgehalten.

Seinen alten Feind Finley war Stanley auch losgeworden, jedenfalls insofern, dass dieser eine private Highschool besuchte. Während der Schulzeit hatte Stanley also Ruhe vor ihm. Überhaupt fühlte er sich wohl, die Schule gefiel ihm, er kam mit den Lehrern gut klar, und schien nun endlich angekommen zu sein. Er blieb allerdings ein Eigenbrötler, war die meiste Zeit allein unterwegs und hatte Bekannte, aber keine Freunde. Dafür hatte die Zeit auf der Middleschool gesorgt. Seit einigen Wochen war er nun auch Teil des Basketball-Teams. Ein herausragender Spieler war er zwar nicht, er saß häufig auf der Bank, aber das störte ihn nicht so sehr. Er war Teil von etwas, er gehörte einem Team an, und das gab ihm das Gefühl, dass er einmal im Leben etwas anderes war als ein kompletter Niemand.

Es hätte tatsächlich bergauf gehen können. Nur leider verpasste Stanley an einem schönen, sonnigen Tag im Mai den Schulbus, der ihn von der Loma Vista Road nach Hause bringen sollte, weshalb er die ganze Strecke laufen musste.

Es war ein simpler Zufall, dass in dem Moment, als Stanley die Shamrock Lane mit ihren kleinen Geschäften passierte, ausgerechnet Finley aus einem Liquor Store hastete, unter seiner Jacke eine Flasche Tequila verborgen. Offensichtlich auf erfolgreicher Diebestour, schaute er weder nach rechts noch nach links und rauschte ungebremst in den völlig verblüfften Stanley, der das Pech gehabt hatte, im falschen Augenblick am falschen Ort gewesen zu sein. Finleys Ellbogen bohrte sich presslufthammerartig in Stanleys Magen und riss diesen förmlich von den Füßen. Mit einem lauten Plumps landete er auf seinem Hintern,  wobei seine Zähne schmerzhaft aufeinander prallten. Für einen kurzen Moment blieb Stanley die Luft weg.

Finley verlor durch den Zusammenprall ebenfalls das Gleichgewicht, machte einen langen Ausfallschritt, der ihm jedoch in keiner Weise half, stürzte erst auf sein linkes, dann auf sein rechtes Knie und blieb seitlich auf dem Kopfsteinpflaster liegen. Die Flasche Alkohol war unter seiner Jacke hervor geglitten und dort, wo sie auf den Asphalt auftraf, in etliche, im Sonnenlicht schillernde, Scherben zerborsten. Der Alkohol verteilte sich um Finleys Hosenboden, so dass man meinen konnte, es sei ihm ein peinliches Missgeschick passiert. Vorbeilaufende Passanten machten anzügliche Bemerkungen, halfen aber nicht.

Mit wackligen Beinen erhob Stanley sich schließlich und reichte dem noch immer am Boden liegenden Finley seine zitternde Hand. Dieser inspizierte fassungslos das Chaos aus Glasscherben und bräunlicher Flüssigkeit auf dem Kopfsteinpflaster, bevor er den Kopf hob und Stanley ins Gesicht sah.   

Dabei wechselte sein Gesichtsausdruck von Verblüffung zu Erkennen, zu Zorn und schließlich zu purem Hass. All diese Emotionen spiegelten sich nacheinander in seiner Mimik wider und erinnerten Stanley absurderweise an das Daumenkino, das er in der Middleschool mal im Kunstunterricht angefertigt hatte, und bei dem man einzelne, aneinandergereihte, unterschiedliche Zeichnungen sehr schnell mit dem Daumen abblättert, bis sie sich zu einem Film zusammenfügen. Ein Zeichentrick der Emotionen, schoss es Stanley durch den Kopf, bevor Finley sich mühsam aufrappelte, direkt neben Stanley ausspuckte und sagte: „Ich fasse es ja nicht, die kleine Schwuchtel. Ab heute bist Du nirgendwo mehr sicher, das schwöre ich Dir."

Ventura heute

Gregory saß zu Hause an seinem kleinen Schreibtisch, den er sich direkt am Fenster    eines Erkers eingerichtet hatte. Dieser Erker war in Gregorys Augen ein absolutes Highlight und hatte den Ausschlag gegeben, diese Wohnung den anderen, die noch zur Auswahl standen, vorzuziehen.

Trotzdem half ihm sein Lieblings-Arbeitsplatz heute nicht weiter. Er wälzte die Akte über den Mordfall Laurie Holland vor und zurück, aber es gelang ihm nicht, auch nur einen einzigen Anhaltspunkt zu finden. Wenn man sich auf die Spuren konzentrierte, die am Tatort gefunden worden waren, dann konnte man nur von einem Selbstmord ausgehen. Es gab keine Fremd-DNA. Nicht, dass es gar keine Spuren gab, das nicht, die gab es zu genüge, aber sowohl an der Leiche selbst, als auch am Fundort ließ sich ausschließlich die DNA des Opfers, Laurie Holland, nachweisen. Die äußerst schweren Verletzungen, die unweigerlich zu ihrem Tod geführt hatten, konnte sie sich aber nicht selbst zugefügt haben. Sie hätte mit ihrer zarten Statur erstens gar nicht die Kraft dazu gehabt, zweitens stand dies im völligen Gegensatz zum Überlebenswillen, den jedes Lebewesen hat, verankert in der DNA, zur Sicherung des Fortbestandes jeder Spezies. Selbst ein Mensch mit eindeutigen Selbstmordabsichten wäre zumindest nicht in der Lage, sich derart unerträgliche Schmerzen zuzufügen.
Das alles waren die Fakten, sie lagen klar auf der Hand, ergaben aber überhaupt keinen Sinn.

Gregory starrte grübelnd aus dem Fenster, als plötzlich unvermittelt ein graues, dickes Fellknäuel auf seinen Schreibtisch gesprungen kam. Johnny Depp, der Kater von Chris, hatte seinen Absprung aber falsch berechnet und schlitterte mit seinen Pfoten auf dem glatt polierten Holz der Schreibtischplatte noch einige Zentimeter weiter, bis er durch den Ellbogen von Gregory ausgebremst wurde.

Vorwurfsvoll blickte der Kater Gregory in die Augen, gab ein ärgerliches Miauen von sich und rollte sich auf der Fallakte zusammen.

„Hey, also das geht wirklich nicht", schimpfte Gregory und versuchte, Johnny Depp mit der Hand von der Akte zu vertreiben. „Husch, husch", machte er dabei.

Der Kater blickte hochnäsig, und schlug mit ausgefahrenen Krallen nach Gregorys Hand. Erschrocken sprang dieser auf. „Du bist ein arrogantes Mistvieh", schnauzte er das Tier an, blieb aber vorsichtshalber in sicherer Entfernung stehen. Johnny Depp drehte sich einmal um die eigene Achse, rollte sich wieder gemütlich auf der Fallakte zusammen und begann, laut zu schnurren.

Gregory fügte sich in sein Schicksal, dass er in seiner eigenen Wohnung nichts mehr zu melden hatte, seit er sie mit dem Kater von Chris teilte. Chris war irgendwann mit der Bitte auf ihn zugekommen, Johnny Depp in Gregorys Wohnung unterzubringen, weil er selbst beruflich häufig unterwegs war und die Nächte zu oft in Hotels verbrachte. Der Kater, so befürchtete Chris, litt unter dem nächtlichen Alleinsein. Gregory hatte zugestimmt, obwohl er den Kater nicht leiden konnte. Er musste sich aber eingestehen, dass ihm Chris wirklich viel bedeutete, und er ihm diesen Wunsch daher nicht abschlagen mochte. Jetzt allerdings war er versucht, die nächste Tierpension anzurufen, egal was die Unterbringung kosten würde.

The Soulcollector - Rätselhafte TodesfälleWhere stories live. Discover now