Kapitel 22 - Surfin' USA Teil 1

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Eine Woche später fand der Arroyo Grande Highschool Surfcontest am Surf-Hotspot Hueneme Beach statt.

Seit Tagen schon hatten die Organisatoren die Entwicklung des Wetters beobachtet, damit nicht ein aufziehender Sturm für eine böse Überraschung sorgen konnte. Die Wetterlage blieb jedoch stabil, am Himmel zeigten sich weder drohende Gewitterwolken noch unangenehmer Regen. Den fürchteten die Kalifornier nämlich, aus Gründen, die schon der alte Songtext prophezeite: „It never rains in California, but boy, don't they warn ya, it pours, man it pours",

Aber davon konnte heute keine Rede sein, die Luft war klar, und der für Ventura typische, frische Küstenwind sorgte für gute Surf-Bedingungen.

Jake hatte zuvor verkündet, an diesem Tag krank zu sein. Er blieb seiner Ankündigung treu und boykottierte das Sport-Event durch Abwesenheit. Für die meisten anderen war es eine willkommene Abwechslung zum Unterricht, der jetzt, wenige Tage vor den Ferien, absolut nichts Spannendes mehr zu bieten hatte.

Um 09:00 Uhr morgens fanden sich alle Teilnehmer am Strand ein, holten ihre Ausrüstung und schlossen sich zu Vierergruppen zusammen.
Die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler hatte sich zuvor abgesprochen, wer mit wem in einem Team antrat. Hier spielte selbstverständlich der Wunsch nach einer Platzierung eine nicht unwesentliche Rolle. Insgesamt ergaben sich schließlich acht Teilnehmergruppierungen.

***

Dee rammte das Ende ihres Surfbretts in den Sand, was ihr gleich mehrere  tadelnde Blicke einbrachte. Es kümmerte sie wenig. Mäßig motiviert setzte sie sich zu Bones, Jordan und Allegra. Diesen Tag hätte sie sich wirklich gerne erspart.

Jordan fixierte mit zusammengekniffenen Augen die Starterliste, die er zuvor mit seinem Mobiltelefon abfotografiert hatte.

„Richard, Ethan, Eric und Toby sind in einem Team", informierte er seine Mitstreiter. „Alles absolute Profis, naja , war ja eigentlich klar. Wir können mal davon ausgehen, dass sie das Ding gewinnen werden."

„Naja, es gibt ja noch einige, die seit dem Kindergarten surfen und sich Chancen ausrechnen. Könnte echt spannend werden", erwiderte Allegra. „Wie setzen sich denn die anderen Gruppe zusammen"

„Warte mal, also Isabelle, Christina und dieser Typ, der auch bei uns im Jahrgang ist, Josh Willard heißt er, bilden zum Beispiel ein Team.
Oh, und Anne mit drei Typen, na da bin ich gespannt."

Insgeheim amüsierte sich Dee über Jordans Bemerkung. Sie wusste, dass Anne sehr sicher und elegant surfte und bestimmt den Ehrgeiz hatte, mit ihrer Mannschaft gegen die von Jordan anzutreten. Auf jeden Fall würde er sich warm anziehen müssen.

Was sie selbst betraf, so wäre sie mehr als zufrieden, wenn sie die Runden einigermaßen standhaft überstehen würde.

Schmunzelnd musste sie an die zwei Abende denken, an denen sie sich mit Richie am Strand getroffen hatte, vorgeblich, um Surfen zu üben.

Zunächst war er wieder ein bisschen kopfscheu geworden, nachdem sie, entgegen ihrer nächtlichen Ankündigung letzte Woche am Strand, dann doch nicht mehr zu ihm gefahren war. Tatsächlich war er anfangs so reserviert gewesen, dass sie fest davon ausging, er würde ihr Surftraining absagen und sich wieder in sein Schneckenhaus zurückziehen.

Aber schließlich hatte er sich redlich bemüht, ihr ein paar Tricks zu zeigen. Ziel der ersten Übung war, ihr Gleichgewicht zu Höchstleistungen zu zwingen. Zu diesem Zweck nutzte er ein Balance Board, ein kleines Brett, ähnlich der Form der Surfbretter, das einen zylindrischen Drehpunkt hatte und sich sehr gut eignete, um auf dem Land die Wellenbewegung des Wassers zu symbolisieren. Kompromisslos bestand Richie darauf, dass diese Übung erst einigermaßen sicher sitzen müsse, bevor im Wasser weiter trainiert werden dürfe.
Dee hatte irgendwann aufgehört zu zählen, wie oft sie auf dieses Balance Board hatte springen müssen. Irgendwann jedenfalls brannten ihr die Waden so als ob sie durch ein Brennnesselfeld gelaufen wäre. Aber Richie war unerbittlich geblieben, während sie innerlich die Idee verfluchte, mit ihm einen Sport zu trainieren, in dem er als absoluter Perfektionist galt.

Als Dee schon befürchtete, gleich zu kollabieren, zeigte Richie Gnade und schlug vor, sich zum Abschluss im Meer abzukühlen. Das ließ sie sich nicht zwei Mal sagen. Ohne noch weiter darüber nachzudenken, streifte sie ihre verschwitzten Sachen ab, bis sie nur noch ihre Unterwäsche trug, und lief mitten hinein in die rauschende Brandung. Richie, dem der Mund offen stand, brauchte einen kleinen Moment bis er reagierte, dann setzte er sich in Bewegung und folgte ihr.

Und hier hatte nun endlich Dee mal die besseren Karten gehabt. Sie schwamm geschmeidig und sehr zügig, und es bereitete ihr eine diebische Freude, Richie abzuhängen. Aber das war es nicht, was Dee jetzt gerade ein kleines Lächeln ins Gesicht zauberte. Eher das, was nach dem Wettschwimmen geschehen war:
Mit einigem Vorsprung erreichte sie den Strand und wartete, bis auch Richie aus dem Wasser gewatet kam. Ohne Vorwarnung rannte sie dann plötzlich lachend los, in Richtung der Dünen, deren Umrisse in der Dämmerung fast wie eine Mondlandschaft wirkten.

Richie war zwar noch ziemlich ausgepowert, aber langsam war er trotzdem nicht und so dauerte es nicht allzu lang bis er Dee eingeholt hatte. Mit etwas zu viel Energie packte er sie von hinten an den Schultern, so dass sie über ihre eigenen Füße stolperte und sich plötzlich im Sand liegend wiederfand. Erschrocken beugte er sich über sie. Dee verzog ihr Gesicht als ob sie starke Schmerzen hätte.

"Oh nein, bitte nicht, das wollte ich nicht Dee", stammelte Richie aufgebracht.

Ein verschmitztes Grinsen stahl sich in ihr Gesicht. Richie sah es langsam von den Mundwinkeln bis zu den Augen wandern und realisierte im selben Moment, dass sie ihn gerade gnadenlos aufzog. Ärger brandete kurz in ihm auf, bis ihre grünen Augen seinen Blick festhielten. Der Text eines Songs kam ihm in den Sinn, über grüne Augen und über weiche Lippen, aber er erinnerte nicht mehr, was es für ein Song war oder wann er ihn zuletzt gehört hatte. Jedenfalls fühlte er sich plötzlich magisch angezogen von den kleinen bräunlichen Sprenkeln, die im Grün ihrer Iris aussahen, wie winzige Inseln in einem klaren Bergsee. Er wollte Dee so gerne küssen. Und dennoch zögerte er. Die Sache mit Jake am Abend des Schulballs hatte ihn verletzt. Jetzt hatte er Angst vor einer weiteren Zurückweisung.

Eine Möwe schrie von irgendwoher und ließ Richie zur Besinnung kommen. Resolut stand er auf, streckte Dee seine Hand entgegen und sagte: „Komm, für heute reicht's".

Auch wenn Richie nicht gewagt hatte, sie zu küssen, hatte Dee doch deutlich gespürt, dass er es gerne getan hätte. Daher wertete sie dies als einen ersten richtigen Richie-Moment, den sie in ihrer mentalen Erinnerungskiste aufbewahrte wie einen Schatz oder wie ein äußerst spannendes Geheimnis, das sie ständig wieder hervorholte, um sich damit zu beschäftigen. Was hätte sie getan, wenn er versucht hätte sie zu küssen? Hätte sie es zugelassen? Und wenn ja, (was sie für wahrscheinlich hielt), wie hätte es sich angefühlt?

Richie, mit seinen großen braunen Augen, die so viel Wärme ausstrahlten, die aber auch gnadenlos kritisch schauen konnten.

Richie, dem es eigentlich immer gelang, sie zum Lachen zu bringen, und dem sie (fast) alles erzählen konnte.

Er war in ihren Gedanken, und ganz offensichtlich bekam sie ihn da auch nicht so einfach wieder heraus. Ein kleines bisschen enttäuscht war sie deshalb auch gewesen, als er am Abend der Strandparty lieber zur Feier seiner Oma gegangen war.

Und dann war plötzlich Jake mit seinem Überraschungskuss gekommen, mit dem er Dee gehörig aus dem Konzept gebracht hatte. Jake, der auf eine selbstverständliche Weise überlegen wirkte, und der einen, mit einem Blick aus seinen dunklen Augen, ziemlich verwirren konnte. Jake hatte eine Ausstrahlung, die ihn aus jeder Menschenmenge herausstechen ließ. Allerdings bedeutete das, dass bei Jake eine Menge weiblicher Wesen Schlange standen. Und Dee war nicht der Typ, der sich gerne in Schlangen einreihte.

Und dennoch, wenn sie ehrlich zu sich selbst sein wollte, musste sie sich wohl eingestehen, dass sie sich, auf unterschiedliche Weise, zu beiden hingezogen fühlte.

Das ist es nun, mein Surfkapitel. Dazu muss ich sagen, dass ich noch nie in meinem Leben auf einem Surfbrett gestanden habe. Trotzdem bewundere ich diesen Sport und hoffe, das kann man in diesem Kapitel auch herauslesen. Für alle Fehler, die mir bei der Beschreibung unterlaufen sind, bitte ich schon mal um Entschuldigung und freue mich hier ganz besonders über Feedback, Verbesserungsvorschläge und Tipps - natürlich gerne auch von den Surfern unter Euch.

The Soulcollector - Rätselhafte TodesfälleWhere stories live. Discover now