Kapitel 43 - Ein Brief in die Heimat

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Etwa drei Wochen nach Weihnachten und nach seiner außergewöhnlichen Gesangseinlage, hockte Paul Jungblut auf einer umgedrehten staubigen Kiste, die in früheren Zeiten vielleicht zur Lagerung von Kartoffeln gedient haben mochte, und die er jetzt zur Sitzgelegenheit umfunktioniert hatte.

Freilich war die Bezeichnung Sitzgelegenheit eine schamlose Übertreibung für das wackelige Ding, dessen Holzlatten bei jeder noch so kleinen Bewegung beängstigende, knarzende Geräusche von sich gaben, und die scharfkantig in sein ausgemergeltes Fleisch schnitten.

Mit gefühllosen Fingern umklammerte er seinen hochwertigen Pelikan Füllfederhalter, den seine Frau ihm stolz zum Geburtstag geschenkt hatte, und den er hütete wie einen Schatz. Das profane Schreibgerät erschien ihm wie ein Bindeglied zur Normalität inmitten der Zeiten des Wahnsinns.

Die Lage konnte man inzwischen nur noch als vollkommen aussichtslos bezeichnen. Der quälende Hunger wurde ebenso ihr täglicher Begleiter wie das dröhnende Gefechtsfeuer und die zermürbende eisige Kälte. Gestern erst war einer seiner Kameraden draußen auf seinem Posten, im kompromisslosen Heulen des russischen Windes, der die frostige Feuchtigkeit der Wolga in sich trug, eingenickt und dann einfach nicht mehr aufgewacht. Als sie ihn wenige Stunden später ablösen wollten, war er am Boden festgefroren gewesen.

Hungrig, krank und jeglicher Hoffnung beraubt, hielten sie aus, in dieser Ruine eines ehemaligen Feriendomizils, eingekesselt von russischen Einheiten, weil Hitler ihnen die Chance vereitelte, die Kämpfe einzustellen und zu kapitulieren.

Er vermochte nicht darüber nachzudenken, was sie bereit gewesen waren zu essen, um dem drohenden Hungertod ein Schnippchen zu schlagen.

Seine Hand, die den Füllfederhalter hielt, zitterte wieder. Die Feder rotierte über dem knittrigen Blatt Papier.

Langsam und mit großer Anstrengung begann Paul zu schreiben:

Liebste Änne...

The Soulcollector - Rätselhafte TodesfälleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt