Kapitel 62 - Trio Infernale

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Zurück in seinem Büro, fischte Gregory den zusammengefalteten Zettel aus seiner Hosentasche, ließ sich auf den hart gepolsterten Drehstuhl fallen und griff nach der Computer-Maus.

Finley Keeling

Das war der Name, den er sich bei Yvette Saunders notiert hatte.

Dreizehn Buchstaben auf einem kleinen, unscheinbar wirkenden Papier, doch so unglaublich bedeutungsvoll.

Dreizehn Buchstaben, die nicht in der Akte von Stanley Kowac auftauchten, weil dessen Eltern damals Anzeige gegen Unbekannt erstattet hatten.

Gregory gab den Namen in die Suchfunktion des Automated Criminal History Programms ein. Von der Journalistin wusste er, dass dieser Keeling zuvor durchaus schon auffällig geworden war.

Solche Fälle begegneten einem immer wieder: Junge Straftäter, die man mit milden Sanktionen zurück auf den Pfad der Tugend bringen wollte, nur um feststellen zu müssen, dass sie erst ganz am Anfang ihrer kriminellen Laufbahn standen und noch weitaus schlimmere Gräueltaten folgen lassen würden.

Zuverlässig lieferte das Programm die gesuchten Informationen.

Akte 8590, Fall 102140, Finley Keeling

Aufnahme der Anzeige: Mai, 03, 1983
Straftat: Diebstahl von Spirituosen
Der Beschuldigte entwendete eine Flasche Tequila der Marke Don Julio
Geschädigter: Marcus Freeman, Inhaber des Village Wines and Spirits.

Der Fall war vor dem Jugendgericht verhandelt und Finley zu vierzig Stunden Sozialdienst bei der Stadtverwaltung Venturas verurteilt worden.

Fall 2022310a

Der Vorbestrafte Finley Keeling wurde zum Tod eines Teenagers befragt, der im Februar, 18, 1984 unter zweifelhaften Umständen ums Leben kam.

Gregory spürte den Puls unangenehm in seinen Carotiden trommeln.

Aufgrund der Auffindeposition der Leiche - hängend an einem Baum - sowie der Todesursache - Strangulation - ging man zunächst von Suizid aus.

Mr. und Mrs. Kowac berichteten jedoch von Übergriffen dreier Teenager, bei denen Finley Keeling der Initiator gewesen sein soll.

Am Leichenfundort stellte man noch eine Haarspraydose sicher.

Die drei Jugendlichen gaben sich jedoch gegenseitig für die Zeit des Todes ein Alibi.

Gregory bearbeitete seine Unterlippe derart heftig mit den Zähnen, dass ein kleiner Blutstropfen aus der malträtierten Haut austrat. Er bemerkte es gar nicht.

Was hatte es mit der Haarspraydose auf sich gehabt?

Keelings Fingergelenke der rechten Hand zeigten damals Spuren von Verbrennungen. War man dem denn gar nicht weiter nachgegangen?

Und gab es Informationen zu Finleys Begleitern? Tyler Bryce und Marc Chesterfield lauteten die Namen der Jungen, die damals das Trio Infernale gebildet hatten. Im Gegensatz zu Finley existierten jedoch keine weiteren Einträge, wie Gregory feststellen konnte. Die beiden Teenager waren damals nur als Zeugen aufgetreten und offenbar niemals aktenkundig geworden. Doch welche Rolle hatten sie genau gespielt?

Tyler Brice...

Gregory wippte unbewusst mit dem rechten Fuß, während er die Buchstaben in die Personen-Suchmaschine eingab. Da man den Jungen damals befragt hatte, waren seine Daten zumindest im System hinterlegt und, mit etwas Glück, vielleicht sogar von einem Praktikanten als Beschäftigungstherapie ordnungsgemäß gepflegt worden.

Bryce, Tyler Anthony
Kings Road 2116
Ventura
Mittlerweile verzogen nach British Columbia, Kanada

Das war demnach eine Sackgasse. Ärgerlich!

Gregory versuchte es mit dem anderen Namen:

Marc Chesterfield

Marc Chesterfield
Galvin Street 805
Ventura

Da kein Vermerk über einen Ortswechsel zu finden war, standen die Chancen gut, dass Mr. Chesterfield, der heute Mitte Fünfzig sein musste, noch immer hier lebte.

***

Nur eine Viertelstunde später saß Gregory in seinem Wagen und fütterte das Navi mit der Adressenangabe.

Wie immer nutzte er die Fahrt zum Nachdenken. Wie wollte er das Gespräch beginnen? Gegen Marc Chesterfield lag nichts vor. Trotzdem glaubte Gregory, dass er sich schuldig gemacht hatte. Wie konnte er nun an den Mann herantreten, ohne dass dieser Lunte roch und gleich in die Defensive ging?

Triple101, Kaliforniens angesagter Sender, spielte Taylor Swifts aktuellen Song „Cruel Summer" und Gregory musste ihr, zumindest was den Titel betraf, recht geben. Mit einer schnellen Bewegung schaltete er das Radio aus.

Er bog in die Figuera Street ein, hielt sich dann rechts und erreichte nach wenigen Minuten sein Ziel.

Nummer 805 war ein wenig einladend wirkendes Gebäude, von dessen Hauswänden großflächig der Putz abblätterte. Das rechte Fenster wies einen deutlich sichtbaren Riss im Glas auf und der Vorhang hing schief.

Noch trostloser sah der Garten aus, der Rasen hatte eine ungesunde, gelblich braune Farbe, und ein kümmerlicher Rosenstrauch, den vor etlichen Jahren ein heilloser Optimist gepflanzt haben musste, welkte traurig vor sich hin.

Langsam stieg Gregory aus dem Wagen, schloss leise die Autotür und näherte sich dem alten Haus. Nirgends entdeckte er eine Klingel, also klopfte er gegen das verblichene Holz der Tür.

Keine Reaktion.

Er versuchte es ein weiteres Mal. Noch immer regte sich nichts.

Doch so schnell wollte er nicht aufgeben. Einen kurzen Moment zögerte er noch, drehte dann auf dem Absatz um und lief zum Auto zurück. Er würde noch eine Weile hier warten. Möglicherweise war Marc Chesterfield ja einfach nur unterwegs. Zum Einkaufen beispielsweise oder auf einem kurzen Spaziergang.

Doch es dauerte noch eine gute Stunde, bis tatsächlich eine Person auftauchte, die sich dem Haus Nummer 805 näherte.

Gregory stöhnte leise, als er hektisch von seinem Sitz hochfuhr und aus dem Wagen springen wollte. Das passierte ihm häufig, dass er seine Körpergröße unterschätzte, und wenn er längere Zeit in einer so unvorteilhaften Haltung verbrachte, war es fast immer schmerzhaft, in eine aufrechte Position zurückzufinden.

„Marc Chesterfield? Sind sie das? Hätten Sie einen Augenblick für mich?"

Steif lief er auf den Mann im mittleren Alter zu, der nun stehen blieb und ihm fragend entgegen sah.

Gregory wiederholte seine Frage.

„Ja, ich bin Marc Chesterfield. Aber ich wüsste nicht, was an mir interessant sein soll."

„Wenn Sie nichts dagegen haben, dann würde ich gerne mit Ihnen über einen Vorfall aus dem Jahr 1984 sprechen. Sagt Ihnen der Name Stanley Kowac noch etwas? Oder auch Finley Keeling?"

Der Mann, der in einem ähnlichen Zustand war, wie das Haus in dem er wohnte, erbleichte. Mit einer fahrigen Bewegung fuhr er sich durch das angegraute strähnige Haar.

„Ich habe nichts damit zu tun, bitte gehen Sie wieder", flüsterte er, während seine rotgeäderten Augen Gregorys Blick auswichen. Schweiß bildete sich auf der faltigen Stirn und die Unterlippe begann zu beben. Er roch nach Alkohol.

Und Gregory wusste, er hatte einen Treffer gelandet.

„Vielleicht können wir hinein gehen?", fragte er behutsam.

The Soulcollector - Rätselhafte TodesfälleWhere stories live. Discover now