Tag 2.1

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"Erneut wurde die Leiche am Waldrand gefunden. Sie war bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Nach dem Täter wird nach wie vor gefahndet. Alle Hinweise bitte an die Nummer, die unten eingeblendet ist." Das Bild verschwand und wurde von dem eines kleinen Pandas ersetzt, der gerade eine Bambussprosse in sein Maul schob. "Im Tierpark ..." Arthur schaltete den Fernseher aus. Kopfschüttelnd. Wie konnte das sein? Er hatte nicht gewusst, dass wieder ein Mord geschehen war, und dennoch hatte er genau zu dem Zeitpunkt das überwältigende Bedürfnis gehabt, die Nachrichten anzusehen, als darüber berichtet wurde. 

Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Dieser Mord war nicht der erste gewesen. Es ging schon einige Wochen so, und als er den ersten Artikel in der Zeitung darüber gefunden hatte, war er Feuer und Flamme gewesen. Zwar wusste er nich tgenau, was genau ihn daran so faszinierte, aber er war von den Worten damals wie gefesselt gewesen. Genau so wie eben bei diesem Bericht. Selbst wenn er es gewollt hätte, hätte er ihn nicht wegschalten können. 

Zögerlich lief er die Treppe nach oben und ging in sein Zimmer. Die Tür verschloss er hinter sich, lehnte sich daran und ließ sich zu Boden gleiten. Was war nur mit ihm los? So etwas war ihm noch nie passiert. Er ließ seinen Blick über das Zimmer schweifen. Es war unaufgeräumt, doch das war keine Besonderheit. Was anderes war als all die Jahre zuvor, waren die Dinge, die es so unaufgeräumt scheinen ließen. Ausgeschnittene Zeitungsartikel, Hefte mit Notizen, am aufgeklappten Computer lief noch eine Videoaufzeichnung, als über den letzten Mord berichtet wurde. Arthur hatte nicht einen versäumt, er wusste über alles Bescheid. 

Die Mordserie spielte sich in einem kleinen Dorf etwa fünf Autostunden östlich von hier, Sedemoid hieß es. Seit einem knappen halben Jahr ging das nun schon - etwa alle zwei Monate wurde mal jemand tot am Waldrand gefunden. Bis jetzt war es stets ein junger Mann gewesen, blutüberströmt, und so zerfetzt, dass man die Identität meist schwer bis gar nicht anhand von Blickdiagnosen feststellen konnte. Natürlich war bereits der ansässige Förster gefragt worden, ob es Tiere im Wald gab, die derartiges machen konnten. Doch dieser hatte verneint. Er meinte, seinen Bestand genau zu kennen, und das Gefährlichste in dem Wäldchen war wohl die Fuchsmutter, wenn sie Junge hatte. Doch in einem solchen Fall mussten meist nur ein paar Hühnchen daran glauben, es war für den Alten unvorstellbar, dass sie einen Menschen anfallen würde oder auch könnte. 

Außerdem war bereits ein Kommandotrupp der Polizei vorgerückt und hatte den Wald Meter für Meter abgesucht. Es gab keine Spuren, keine Auffälligkeiten, nichts. Nur den Ort des Geschehens hatten sie gefunden - eine kleine Lichtung, die eigentlich weit weg von dem Platz war, an dem alle Leichen gefunden wurden. Auf ihr wuchs auch kein Gras mehr, das viele Blut dürfte sie unfruchbar gemacht haben. Doch eine Blutspur von ihr weg? Oder eine vom Waldrand weg? Absolute Fehlanzeige. Es war allen ein Rätsel. 

Mit einem Ruck sprang Arthur auf. Er klappte seinen Computer zu, hob die Zeitungsartikel vom Boden auf, packte die Hefte und alle anderen Dinge weg, die etwas mit seinem neuerlichen Wahn zu tun hatten. Schnell ließ er alles unter seinem Bett verschwinden, er wollte sie nicht mehr sehen. 

Seufzend ließ er sich dann auf sein Bett fallen, das Gesicht bedeckte er mit seinen Händen. Er musste sich irgendwie ablenken. Schnell sprang er auf, wollte aus dem Zimmer stürmen, und prallte dort fast gegen die abgeschlossene Tür. Ungeduldig schloss er sie wieder auf und lief, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter. 

 "Wohin bist denn du so schnell unterwegs?" Sein Vater wich einen Schritt zurück, nachdem Arthur ihn fast umgerannt hätte. 

"Oh, 'tschuldigung, hab dich nicht gesehen", murmelte er und wich seinem Blick aus. Er hatte das Gefühl, als wüsste sein Vater, was ihn ihm vorging, obwohl er mit ihm noch nicht einmal darüber gesprochen hatte. 

 "Ja, das hab ich bemerkt." Er machte eine kurze Pause, als ober überlegen wollte, ob er noch etwas dazu bemerken sollte. Dann entschied er sich aber augenscheinlich dagegen. "Zieh dir den warmen Mantel an, es fröstelt bereits draußen." 

 Arthur verdrehte die Augen. Obwohl er schon fünfzehn war, behandelte ihn sein Vater manchmal noch so, als wäre er ein kleines Kind. Aber er war froh, dass er ihn gehen ließ. Er befolgte den Rat seines Vaters, was sich als eine gute Entscheidung herausstellte. 

Sobald die Haustüre hinter ihm ins Schloss gefallen war, trieb der eisige Wind Tränen in seine Augen. Gut so. Vielleicht ließ das die Gedanken erfrieren. Die Hände in den Taschen vergraben stapfte er durch den kargen Garten, den Kopf eingezogen, um dem Wind ein bisschen zu entkommen. Das Gartentor quietschte, als er es bewegte, um hinauszugehen. Kurz blieb er unschlüssig stehen, wusste nicht, wohin er sollte. Dann entschied er sich aber für den Weg, den er in letzter Zeit schon so oft beschritten hatte. 

Seine Beine führten ihn über einen kleinen Feldweg hinaus aus dem Ort. Dass es beinahe eine Stadt war, bemerkte man hier am Rand nicht. Arthur mochte das Haus, und seine Lage besonders. Er war in fünf Minuten im Zentrum, konnte alles machen, was man sich als Jugendlicher wünschte. Aber wenn er wollte, drehte er dem Rummel einfach im wahrsten Sinne des Wortes den Rücken zu und ging auf diesem Feldweg hinaus, wo er selten einer anderen Menschenseele begegnete. Meistens tat er dies, um nachzudenken, doch heute hatte er ein anderes Ziel vor Augen. 


BlutmondgeborenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt