Tag 12.3

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"So, da wären wir also. Komm, ich weiß einen wunderschönen Weg!"

Als wäre es selbstverständlich, kam Mara auf ihn zu, hackte sich bei seinem Arm ein und zog ihn über die Straße. Dabei blickte sie nicht links oder rechts, sondern sie schien darauf zu vertrauen, dass auf dieser Straße am Tag vielleicht fünf Autos vorbeifuhren, und drei davon Busse waren.

Auf der anderen Seite gingen sie zunächst entlang der Straße, aber bereits nach wenigen Metern bogen sie auf einen schmalen Wiesenweg ab.

"Bist du öfters hier spazieren, oder wieso kennst du dich so gut aus?", wollte Arthur wissen. Es hatte ihn am Anfang überwältigt, Mara so nahe neben sich zu spüren, doch nach ein paar Minuten wagte er es, auch zu sprechen.

"Ich hab früher hier gewohnt. Meine Tante wohnt auch immer noch da, aber mein Dad hat einen anderen Job bekommen und daher sind wir von hier weggezogen." Ihre Stimme klang traurig und auch ihre Schritte wurden weniger schwungvoll, während sie das sagte.

Arthur zog sie noch ein bisschen näher an sich, falls das überhaupt möglich war. "Es ist wunderschön hier", versicherte er ihr. "Kommst du jetzt noch öfters hier her?"

"Wenn wir meine Tante besuchen, aber das ist meist nur ein bis zwei Mal im Jahr. Ansonsten eher selten."

"Na dann ist es ja gut, dass wir so weit auseinander wohnen und uns hier treffen konnten!"

Mara warf ihm einen dankbaren Blick zu. "Ja, das finde ich auch."

Einige Minuten vergingen, in denen keiner der beiden etwas sagte. Aber das Schweigen, das dadurch entstand, war keinesfalls unangenehm. Sie ließen beide die Natur auf sich wirken, sahen den Bäumen entgegen, denen sie immer näher kamen, und ließen den kalten Wind durch ihre Haare blasen. Mara trug ihre braunen Haare offen, und Strähnen davon wurden ihr immer wieder ins Gesicht geweht, die sie dann mit ihrer äußeren Hand entfernte. Arthur schielte immer wieder unauffällig auf sie hinab - sie hatte genau die perfekte Größe für ihn. Würde er den Arm um sie legen, würde wahrscheinlich ihre Schulter genau in seine Achsel passen.

"Du gefällst mir so übrigens viel besser", lächelte Mara ihn plötzlich an. Arthur erwiderte das Lächeln zwar, zog jedoch gleichzeitig die Stirn in Falten.

"Besser als wann?"

"Als auf der Party, wie ich gegangen bin. Weißt du das eigentlich noch?" Sie kicherte, und ihre Schritte hatten wieder zu ihrem alten Schwung zurückgefunden. "Du bist draußen vor der Haustür in der Wiese gelegen, ich glaube du warst stockbetrunken."

Arthur verzog das Gesicht. "Ja, da hab ich wohl ein bisschen zu viel erwischt an dem Abend...", gab er zu.

Mara lachte. "Das kannst du laut sagen. Deshalb hat es mich ja eigentlich auch gewundert, dass du mich angerufen hast." Sie warf ihm einen schnellen Blick zu. "Die Jungs, die ich kenne, würden sich das wahrscheinlich nicht trauen."

Oh Gott, was hatte er gemacht? Es fiel Arthur zunehmend schwerer, so eng mit Mara zu gehen, wusste er doch eigentlich überhaupt nicht, welche Erinnerungen sie verband.

"Wieso denn nicht?", fragte er betont lässig. Vielleicht ließ sich irgendetwas aus ihr herausfinden, das er noch nicht wusste.

"Naja, zuerst diese wunderschöne Begegnung, danach hätte ich schon damit gerechnet. Aber später draußen, da warst du ein ganz anderer. Ich glaube, anderen wäre es wahrscheinlich peinlich gewesen, sich danach noch zu melden."

Na toll, das führte zu gar nichts. "Tja, ich bin eben nicht wie jeder andere", meinte er daher nur schlicht.

Mara grinste ihn an. "Nein, sieht nicht so aus."

Der Schatten der Bäume verschluckte ihre nächsten Schritte. Sie waren im Wald angelangt, und ein moosig-harziger Duft drang sofort in Arthurs Nase. Der Wind ließ die Blätter rascheln, und Mara entglitt ein Seufzen. "Ich liebe den Wald. Wo ich jetzt wohne, gibt es auch einen, aber den darf man ja leider nicht betreten."

"Wieso denn das nicht?", fragte Arthur leichthin.

Mara warf ihm einen verwirrten Blick zu. "Wegen der Morde. Bei deiner Reaktion auf der Party hab ich mir eigentlich gedacht, du bist darüber informiert!"

Es lief ihm kalt den Rücken hinunter. Mara wohnte neben einem Wald, in dem es Morde gab. Sie würde doch nicht ... "Das hab ich dann wohl verdrängt", murmelte er und musste sich zusammenreißen, sie nicht von sich zu stoßen. Das war jedoch auch gar nicht nötig, denn Mara löste sich von selbst von ihm. Ein großer Schritt brachte sie vor ihm zu stehen, und so standen sie sich gegenüber.

"Genauso wie jetzt. Genauso hast du reagiert, als ich dir gesagt habe, dass ich aus Sedemoid bin."

Jetzt war es raus. Es war offiziell. Mara war aus dem Ort, der Arthurs Leben im vergangenen Halbjahr weitgehend bestimmt hatte. Zufall?

Er versuchte, sich aus seiner Starre zu befreien und schüttelte den Kopf. "Tut mir leid."

Mara griff ihm sanft mit beiden Händen an seine Schultern und fuhr seine Oberarme hinauf und hinab. "Kennst du jemanden, der betroffen war?", meinte sie mitfühlend. "Du musst nicht darüber reden, wenn du nicht willst. Ich sehe ja, dass dir dieses Thema nahe geht!", ruderte sie dann gleich wieder zurück.

Arthur seufzte. "Nein, das ist es nicht. Ich weiß auch nicht... tut mir leid."

Mara hob eine Hand und strich über seine Wange. Ihre Blicke kreuzten sich und ließen einander nicht mehr los. "Das muss dir nicht leid tun. Es ist wirklich schlimm, was da passiert. Verstehe ich, dass einen das aus der Bahn werfen kann."

Arthur war unfähig, etwas zu antworten. Er benötigte seine ganze Konzentration, sich nicht zu ihr hinunter zu beugen. Sie nicht an sich heran zu ziehen. Nicht seine Lippen auf ihre zu pressen. Welch unpassender Zeitpunkt, jemand küssen zu wollen, wenn man sich gerade über Morde unterhielt.

BlutmondgeborenWhere stories live. Discover now