Tag 2.2

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Etwa zeitgleich mit dem Auftauchen der Morde war er zum ersten Mal einen Weg gegangen, den er bisher nicht gekannt hatte. Diesen schlug er auch nun wieder ein. Er führte ihn zwischen den Feldern hindurch, kurz an einem Waldstück vorbei, und schließlich stand er endlich davor. Es war nur ein kleiner, abgezäunter Fleck Wiese, und auf ihm stand ein kleines, weißes Pferd.

Eigentlich machte Arthur sich nichts aus den großen Tieren, geschweige denn, dass er jemals daran gedacht hatte, eines zu reiten. Aber dieses hier hatte es ihm irgendwie angetan. Als er an den Zaunrand trat, hob das kleine den Kopf und schnaubte leise. Ein Lächeln glitt über Arthurs Gesicht. Schnell schaute er sich um, doch wie es zu erwarten gewesen war, sah er außer sich selbst keine andere Person. Also schlüpfte er schnell zwischen den untersten zwei Zaunlatten hindurch und ging auf das Pferd zu. Instinktiv verhielt er sich ruhig, er wollte es nicht erschrecken. Doch das Tier hatte keine Angst, immerhin kannte es Arthur nun ja schon und wusste, dass er ihm nichts böses wollte. Bei ihm angekommen, streichelte Arthur sanft über das flauschige Fell des Tieres. Es war dichter geworden in den letzten Wochen, das Pferd bereitete sich auf den Winter vor. Kurz ließ ihn das Weiße gewähren, dann senkte es wieder den Kopf und knabberte an den letzten Grashalmen, die diese Weide für es übrig hatte.

Mitleid überkam Arthur, wie so oft. Nach dem, was er wusste, waren Pferde Fluchttiere und außerdem Herdentiere. Dieses hier jedoch war immer, wenn er kam, ganz alleine. Er wusste nicht, wer der Besitzer war, doch augenscheinlich kümmerte es diesen nicht, ob sein Pferd Freunde brauchte, oder nicht. Gewohnheitsbedingt hob Arthur immer wieder den Blick und prüfte, ob er nach wie vor der einzige Mensch hier war. Das wäre Gesprächsthema Nummer eins in der Schule - er, der harte Typ mit der großen Klappe, suchte Trost bei einem armen Pferdchen. So weit wollte er es nicht kommen lassen.

Seufzend ließ er seine Hand noch ein letztes Mal durch die ungekämmte Mähne fahren, dann murmelte er ein leises 'Tschüss' und trat seinen Heimweg an. Der Himmel war bereits dunkler geworden, der Tag näherte sich seinem Ende. Als er schließlich endlich durch das Gartentor ging, war es bereits stockdunkel um ihn.

Drinnen nickte sein Vater ihm nur kurz zu. Arthur wich seinem Blick aus. Er hasste es, dass er ihn so abblockte, aber er konnte nicht anders.

"Ich mach dann Abendessen, Spaghetti, willst du auch welche?", fragte sein Vater ihn, als er gerade nach oben verschwinden wollte. Arthur überlegte nur kurz. Einerseits war ihm nicht wirklich danach, eine weitere schweigsame Mahlzeit mit seinem Vater einzunehmen, aber sein Magen hatte schon vor Stunden zu knurren begonnen.

"Ja, gerne", antwortete er deshalb. "Ich kann den Tisch aufdecken, wenn du willst. Vorher gehe ich mich aber noch schnell umziehen." Auf eine Antwort wartete er nicht mehr, sondern lief die Treppe hinauf in sein Zimmer. Dort schälte er sich aus seinen Klamotten, und beschloss, sich auch noch kurz unter die Dusche zu stellen. Seine Gliedmaßen waren so kalt, ein bisschen heißes Wasser würde wahrscheinlich Wunder wirken. So war es auch. Sogar ein Lächeln schlich sich auf Arthurs Züge, als das Wasser über seinen Körper lief und ihn beinahe verbrannte. Doch er genoss es. Auch schrubbte er sich, als wollte er den Geruch des Pferdes vorhin losbekommen. Er verstand sich selbst nicht mehr.

Nachdem er in seinen Jogginganzug geschlüpft war, ging er nach unten und richtete wie versprochen den Tisch her. Sein Vater war auch schon am Fertigwerden, und so saßen die beiden wenige Minuten später vor einem dampfenden Teller Nudeln. Am Anfang aßen sie schweigend, dann ergriff jedoch der Vater das Wort.

"Arthur, du gehst mir aus dem Weg", sprach der die Tatsache endlich aus. Arthur wand sich auf seinem Stuhl.

"Tu ich doch gar nicht."

"Tust du doch." Sein Vater legte das Besteck zu Seite. Auweia, das konnte ein interessantes Gespräch werden. "Ich hab bis jetzt nichts gesagt, weil ich dachte, es wäre vielleicht nur eine kurze Phase. Aber das geht jetzt schon Monate so. Ich bin doch nicht blind, Arthur. Ich weiß, dass es etwas mit diesen Morden zu tun hat, die sich in Sedemoid ereignen. Was hat es denn damit auf sich, dass du dich so verändert hast?"

Zuerst war Arthur wie erstarrt. Sein Vater wusste es. Obwohl er sich bemüht hatte, alles versteckt zu halten, war er irgendwie darauf gekommen. Plötzlich durchfuhr ihn eine Erkenntnis. "Du warst in meinem Zimmer." Seine Stimme war ruhig, aber fest. Er blickte seinem Vater starr in die Augen. Das war eigentlich die einzige Regel, an die sein Vater sich zu halten hatte. Arthurs Zimmer war tabu. Arthur spürte Wut in sich aufsteigen und seine Finger verkrampften sich um das Besteck. Doch sein Vater schüttelte den Kopf.

"Nein, war ich nicht. Als ich bemerkt habe, dass du dich veränderst, hab ich einfach mehr aufgepasst." Er hob die Augenbrauen. "Denkst du, es fällt nicht auf, wenn du Artikel aus der Zeitung ausschneidest? Und wenn du den Fernseher einschaltest, kann man ihn auch aus der Küche noch hören. Ich hab dir nicht hinterher spioniert, aber ich mache mir Sorgen!"


BlutmondgeborenWhere stories live. Discover now