Kapitel 39

592 19 0
                                    

Tills Sicht:

Ich hätte wirklich mit allem gerechnet, aber niemals mit so einer krassen Story. Ich war echt geschockt. Sie war so stark und ich kam nicht mal mit meinen Problemen klar. Ich war die reinste Lachnummer. "Martha, ich hatte echt keine Ahnung, dass es so krass ist. Ich meine du bist immer so positiv und naja wie ein Kampfhund halt." Okay wow. Ernsthaft?! Was besseres fiel mir nicht ein?! Innerlich gab ich mir eine Schelle. Doch schon wieder überraschte sie mich mit ihrer Reaktion. "Schon wieder der Kampfhund?". Und dann mussten wir beide lachen, weil es schon echt absurd war.

Ich war total fasziniert von Martha. Trotz so einer Vergangenheit, war sie ein so herzlicher Mensch. Und was war ich? Ich war ein Nichts. Ein Niemand. Ich benahm mich wie der letzte Honk. "Alles okay?", riss mich ihre besorgte Stimme aus meinen trüben Gedanken. "Ja. Mach dir keinen Kopf. Macht ja sonst auch keiner.", fügte ich flüsternd hinzu. "Wie meinst du das?", harkte sie direkt nach. Hätte ich ja wissen müssen. Aber okay sie hatte mir ihr tiefstes Geheimnis erzählt, und sich emotional vor mir ausgezogen. Jetzt war es an mir, die Hosen runter zulassen. Also emotional gesehen. "Du weißt ja schon, dass es bei mir zu Hause nicht so optimal läuft.", fing ich dann zögernd an. Sie nickte und sah mich dann erwartungsvoll an. Ich schloss kurz meine Augen um mich zusammeln. Das würde das härteste Gespräch ever werden.

"Okay also. Mein Vater war schon immer sehr streng. Für ihn waren immer nur Leistung und gute Noten wichtig. Was anderes zählte nicht. Er war auch der Meinung, dass man ein Versager ist, wenn man mal etwas nicht hinbekommt. Und genau das hat er mich immer spüren lassen. Solange ich gute Noten in der Schule hatte und auch beim Sport Erfolg hatte, war er stolz auf mich und hat mich beachtet. Doch sobald ich mal ne 3 nach Hause brachte oder nur den zweiten Platz belegte, war ich in seinen Augen eine Enttäuschung. Und irgendwann auch in meinen. Er hat mir es so lange eingeredet, bis ich es selbst geglaubt habe. Dann eines Tages ist es vollkommen eskaliert. Ich verstehe ehrlich gesagt bis heute nicht warum. Ich hatte eine 5 in einem Mathetest. Dieser Test war nicht mal wichtig für die Endnote oder so, aber als ich dann meinen Eltern davon erzählte"  Ich atmete einmal tief durch, bevor ich fortfuhr. Die Erinnerung schmerzte einfach zu sehr. "Da hat er mich dann geschlagen. Mitten in mein Gesicht. Seinen Blick sehe ich heute noch vor mir und seine Worte hallen jedes Mal durch meinen Kopf, wenn ich mal wieder versagt habe. Natürlich hatte er später gesagt es täte ihm Leid und ihm wäre ausversehen die Hand ausgerutscht. Doch ihm rutschte dann immer öfter die Hand aus. Immer öfter demütigte er mich und immer öfter brachte ich dadurch dann auch schlechte Noten nach Hause. Es war ein Teufelskreis.
Das ging 2 lange Jahre so.
Doch dann vor 4 Jahren hat meine Mum es endlich geschafft von ihm los zu kommen. Wir sind in eine andere Stadt gezogen, ich kam auf eine neue Schule und alles schien endlich gut zuwerden. Meine Mum und ich waren ein unschlagbares Team. Meine Mum war endlich wieder glücklich und so war ich es auch.
Bis dann der Stieftrottel auftauchte." Automatisch ballte ich meine rechte Hand zu einer Faust.
"Er hat alles kaputt gemacht. Seit er da ist, bin ich nur noch Luft für sie. Das Einzige was zählt sind meine Stiefgeschwister und das Baby. Ich habe echt viel versucht ihre Aufmerksamkeit zu eregen, aber anstatt, dass sie mir zugehört haben, wurde ich hier aufs Internat abgeschoben. Sie meinten ich wäre hier besser aufgehoben, weil ich ja nur Stress machen würde. Aber woher mein Verhalten kam, wollten sie gar nicht wissen. Sie meinten zwar es wäre nicht für immer, aber auch das war wieder nur eine weitere Lüge. Eine weitere Enttäuschung.
Aber im Endeffekt fande ich es echt gut hier. Hier habe ich mich seit Langem mal nicht unsichtbar gefühlt. Mal nicht nutzlos oder wertlos. Ich hatte Erfolg mit der Staffel, ich war beliebt, Schüler sahen zu mir auf, ich gab den Ton an und endlich wurde mir zugehört. Ich wurde wahrgenommen. Ich wurde respektiert. Ich hatte endlich wieder ein zu Hause. Ein zu Hause in dem ich mich wohl fühlte. Ich hatte wieder eine Familie.
Doch auch das hielt nicht für lange, denn dann seid ihr aufgetaucht. Ich habe euch von Anfang an gehasst, aber nur weil ich Angst hatte, ihr würdet mir das alles wieder wegnehmen.
Deswegen war ich so ätzend zu euch und wollte, dass ihr unbedingt wieder verschwindet. Doch dann haben sich plötzlich alle gegen mich gewendet und ich fühlte mich wieder wie der kleine 9-jährige Versagertill. Und als ich dann gesehen habe, wie alle ohne mich klar kamen und ich wieder nur wie Luft behandelt wurde, wollte ich nach Hause. Auch wenn ich da eigentlich auch nicht sein wollte. Und als ich sie dann gefragt habe, ob ich zurück nach Hause darf, wollten sie mich nicht. Ab da hab ich mich dann nur noch weiter von allen abgeschottet. Naja bis du mich dann dazu gebracht hast mich bei den Jungs zu entschuldigen. Und es war tatsächlich einfacher als gedacht. Naja danach zumindest. Problem war aber dann, in den Ferien, hat meine Mum mir dann erzählt sie hätten mich vom Einstein abgemeldet. Und da war ich dann so wütend, dass ich nach 3 Wochen einfach wieder her gekommen bin. Seit dem habe ich auch nichts mehr von meiner Mum gehört. Meine Mum hat mich nicht mal gefragt wo ich bin oder wie es mir geht. Ihnen ist es scheiß egal. Ich bin ihnen egal.", sagte ich traurig. Und ich konnte nicht verhindern, dass eine einzelne Träne meine Wange herunter lief. Schnell wischte ich sie weg, aber Martha hatte sie natürlich gesehen. Ich spürte ihre zierliche Hand auf meiner Schulter und diese Berührung reichte aus, dass sich eine angenehme Wärme in meinem Körper ausbreitete.
"Das tut mir so Leid Till. Alles. Ich meine das ist einfach nur heftig. Ich hatte echt keine Ahnung, dass es so krass bei dir zu Hause abgeht.", sagte sie knapp. Ihr fehlten tatsächlich die Worte. Das war ja mal was ganz Neues.

What if?Onde histórias criam vida. Descubra agora