Kapitel 52

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Marthas Sicht:

"Till? Hey Till!", verwirrt schaute ich ihm nach. Ich stand auf und lief ihm zwar direkt hinterher aber natürlich war er schneller als ich. Doch dann plötzlich wurde er langsamer und ich rannte schon fast in ihn rein. Er beugte sie nach Vorne und stützte seine Hände auf seinen Oberschenkeln ab. "Was ist denn los?", sagte ich vorsichtig. Hatte ich was falsch gemacht? Langsam drehte er sich um und ich erschrak. Er weinte. So richtig. Mit ganz viel Tränen. Wortlos zog ich ihn in eine Umarmung und gab ihm den Halt, den er offenbar gerade so dringend brauchte. Er vergrub seinen Kopf in meiner Schulter und ich strich ihm beruhigend über den Rücken. "Alles wird gut.", flüsterte ich ihm ins Ohr. "Ich bin so erbärmlich.", murmelte er.
"Bist du nicht. Es ist ganz normal, dass man weint und seine Gefühle zeigt. Ich finde es stark von dir und es zeigt mir nur wie sehr du mir vertraust." Ich wusste es zu schätzen, dass er hier vor mir weinte. Sonst versteckte er seine Gefühle und Emotionen immer ganz weit hinter der Tillinator-Maske und ließ nur die unbändige Wut raus. Er löste sich dann aus der Umarmung und wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht. Ich sah ihm an, dass er krampfhaft versuchte seine Mauer wieder herzurichten, aber ich konnte aus Erfahrung sagen, dass es nicht so leicht war, wenn sie einmal Risse bekommen hatte und die ganzen angestauten Emotionen ihren Weg nach draußen fanden.
Genau dann war es echt schwer sie wieder einzufangen und zurück zuhalten. Aber auch das war okay. Er konnte sich bei mir fallen lassen. Ich würde ihn immer auffangen.

"Tut mir Leid, dass ich weggelaufen bin. Ich will eigentlich nicht mehr wegrennen, aber dieser Schutzmechanismus ist bei mir so tief verankert, dass ich es schon fast automatisch mache. Die Nachricht deiner Mutter hat bei mir die Sicherung rausfliegen lassen. Ich dachte.. Ich wollte.. Ich... Man, ich wünsche mir einfach, dass meine Mum mich mal fragen würde wie es mir geht. Vielleicht bin ich auch ein bisschen eifersüchtig auf dich, dass deine Mutter dich noch nicht aufgegeben und einfach so ersetzt hat. Meine hat es. Seit sie mich hier her geschickt hat. Seit dem bin ich für sie nicht mehr existent. Sie ist bestimmt sogar froh darüber, dass sie mich los ist. Und der Stieftrottel sowieso. Für ihn war ich von Anfang an nur ein Problem, welches galt aus der Welt zuschaffen. Für ihn war ich nur Dreck.
Müll, den er entsorgen musste. Und er hat es geschafft. Ich bin offiziell für sie gestorben.", erzählte er traurig. Seine Worte trafen mich direkt ins Herz. Er hatte sowas einfach nicht verdient. Je mehr er von sich erzählte, desto besser konnte ich verstehen wieso es den Tillinator gab. Wieso er Till immer mehr verblassen ließ und nur selten zum Vorschein brachte. Till war ein zerbrechlicher Junge, der nichts anderes wollte als geliebt und wahrgenommen werden. Er wollte gehört werden und verstanden. Den Tillinator hingegen, ließ alles kalt. An ihm prallten solche Dinge ab. Damit wollte sich Till nur schützen. Schützen vor weiteren Enttäuschungen und Tiefschlägen, die ihn, wie es schien, schon sein Leben lang begleiteten. Er hatte sich den Tillinator erschaffen, um nicht weiter verletzt zu werden. Mit ihm konnte er Leute auf Abstand halten und ja manchmal verletzte er damit auch jemanden. Nicht mit Absicht, aber dennoch benutzte er ihn wie eine Waffe. So als wolle er das kaputt machen, was ihn kaputt machen könnte.
Aber ich liebte Till und nicht den Tillinator und deswegen musste ich jetzt ganz besonders auf Till aufpassen. Damit er nicht komplett in Vergessenheit geriet. Damit er sich nicht komplett in sein inneres Schneckenhaus zurückzog. Ich musste ihm zeigen, dass Till es Wert war geliebt und anerkannt zu werden. Dass er besser war als der Tillinator und ihn die Leute mögen werden, auch wenn er es vielleicht nicht glaubte.
Ich wusste genau wie sich das anfühlt, wenn man plötzlich an allem und jedem zweifelt, aber trotzdem durfte man nicht die Hoffnung verlieren.
Ich musste ihm zeigen, dass ich an ihn glaubte. Dass ich ihn liebte. Dass Till es Wert war und verdiente glücklich zu sein. Ich musste versuchen ihm diese Ängste und Zweifel, wenigstens ein bisschen, zu nehmen.
Vielleicht sollte ich mal mit seiner Mutter reden. Eine Nachricht von ihr würde bestimmt Wunder vollbringen.

What if?Where stories live. Discover now