Kapitel 51

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Till Sicht:

Ich wusste ja schon, dass Martha und ich uns ähnlicher sind als ich am Anfang dachte, aber das wir uns so ähnlich waren, kam auch für mich überraschend. Wir beide kamen aus verkorksten und abgefuckten Familien. Wir beide fühlten uns von unseren Müttern verstoßen und unverstanden. Doch genau das brachte uns nur noch näher zusammen. Genau deswegen brauchte ich sie noch näher bei mir. Sie verstand mich. Sie liebte mich trotzdem. Sie zeigte mir, dass es okay ist schwach zu sein. Dass es okay ist zu verlieren. Es macht einen nicht zum Versager, ganz im Gegenteil. Es beweist Stärke. Und diese Stärke, fühlte ich nur ihretwegen. Alleine dafür war ich ihr unendlich dankbar.
Dafür liebte ich sie so.

"Vielleicht solltest du, aber trotzdem die Nachrichten lesen, die deine Mutter dir geschickt hat.", sagte ich dann in die Stille hinein. Ihre Mutter hatte ihr immer wieder den Tag über Nachrichten geschrieben, aber Martha hatte sie natürlich gekonnt ignoriert. Sie öffnete ihre Augen und sah mich von unten entgeistert an. Ich schaute runter auf meine Oberschenkel, auf denen sie ihren Kopf abgelegt hatte.
"Ich will nicht.", sagte sie trotzig. 'Ach ja. Mein kleiner Sturkopf', dachte ich liebevoll und musste innerlich grinsen. "Komm schon. Du musst ja nicht antworten, aber bist du denn so gar nicht neugierig was sie geschrieben hat?" "Da werden nur weitere Vorwürfe drin stehen. Wie immer." "Das wirst du erst wissen, wenn du es gelesen hast.",versuchte ich sie zunecken. Doch sie seufzte nur genervt auf. "Bitte lass es gut sein.", und schloss dabei wieder ihre Augen. Nachdenklich kaute ich auf meiner Unterlippe herum. "Ich würde mich freuen, wenn ich überhaupt eine Nachricht von meiner Mum bekommen würde. Egal was drin stehen würde.", kam es mir dann leise von den Lippen. Und als Bestätigung holte ich mein Handy aus der Sweatshirt Jacke und schaute drauf. Ja. Genau 0 neue Nachrichten.
Martha richtete sich wieder auf und sah mich jetzt von der Seite an. Dann drückte sie mir einen Kuss auf die Wange und fischte auch ihr Handy aus der Tasche. Sie starrte auf den Bildschirm, bis er wieder schwarz wurde. Dann entsperrte sie ihr Handy erneut und starrte wieder nur drauf. "Gib dir nen Ruck", sagte ich und stupste sie mit der Schulter an. Nachdem sie aber immer noch nicht reagierte, nahm ich ihr kurzerhand das Handy weg und öffnete selbst das Benachrichtigungsfeld. "Eey. Spinnst du?! Gib mir mein Handy wieder!" Sie streckte sich danach aus, aber ich hielt es in die andere Richtung, sodass sie nicht ran kam. Dann fing ich einfach an zu lesen. "So typisch. Immer wenn es unangenehm wird legst du einfach auf. Dabei war ich noch gar nicht fertig. Ich wollte dir nämlich sagen, dass ich dich trotzallem was passiert ist, lieb habe. Ich hab dich sehr lieb Martha und Lenny natürlich auch. Ich weiß auch, dass ich keine gute Mutter war seit Papa nicht mehr da ist. Dafür möchte ich mich aufrichtig bei dir entschuldigen. Ich hoffe, dass wir es irgendwann und irgendwie wieder hinbekommen eine Familie zu sein. Und vielleicht können wir ja in den Sommerferien zusammen wegfahren?", meine Stimme wurde leiser und ich drückte Martha ihr Handy in die Hand. Dann sprang ich auf und ging ohne ein weiteres Wort los. Das war zu viel für mich. Also waren wir uns doch nicht so ähnlich. Ich hatte es mir so gewünscht. Nicht, dass sie sowas durchmachen muss, wie ich, aber dann hätte ich jemanden gehabt der mich zu 100 Prozent versteht. Doch das war dann wohl jetzt doch nicht mehr der Fall. Ich weiß auch nicht, aber ich fühlte mich auf eine Art betrogen. Ihre Mutter hatte sie noch nicht ganz aufgegeben. Meine schon. Sie wurde von ihrer Mutter noch geliebt. Mir würde meine Mum nie sowas schreiben. Sie würde sich weder bei mir entschuldigen, noch würde sie sagen, dass sie mich lieb hat. Und dann noch das mit dem Wegfahren. Genau das hatte mir der Stieftrottel auch gesagt, nachdem sie mich nicht wieder haben wollten. Es tat immer noch viel zu sehr weh. Die Worte von ihm hatten sich in mein Hirn eingebrannt. 'Wir sind alle glücklich so wie es ist. Und wir wollen doch auch alle, dass es so bleibt. Deswegen haben wir beschlossen, dass es besser für alle ist wenn du im Internat bleibst.' Klar für SIE alle war es besser. Aber was mit mir war, das war mal wieder völlig egal.
Shit und jetzt lief ich schon wieder weg, anstatt es Martha zu erklären. Ich war doch ein Feigling und ein Loser. Der größte von allen. Schon wieder fluteten mich die Selbstzweifel, gegen die ich doch so hart ankämpfte. Doch jedes Mal brachen sie wie eine Flut über mich rein und ich konnte nichts machen außer versuchen nicht von ihnen fortgespült zu werden oder sogar darin zu ertrinken.

What if?Where stories live. Discover now