Kapitel 19 - Verdrängte Tränen

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Sobald das letzte Wort Magnus' Mund verließ, schien es so, als habe eine Schere die Fäden einer Marionette durchgeschnitten, sodass diese komplett in sich zusammenfiel. Seine Schultern sackten herab, sein Kopf war gesenkt und er wirkte plötzlich so klein und ... zerbrechlich. Sein Körper bebte leicht und nicht nur seine Hände im Laken waren verkrampft, sondern sein ganzer Rücken ebenfalls.

Das alles rief Sorge in Alec auf, denn das war nicht im entferntesten normal. Dennoch ... Er musste doch etwas tun können.

Magnus so ... verletzlich zu sehen, tat ihm selbst weh. Er sollte glücklich sein und Alec wollte ihn doch vor allem beschützen.

Er beugte sich vor und hob mit einer Hand sanft Magnus' Kinn an, sodass er ihm in die schönen Augen sehen konnte. Selbst dort konnte er die Verspanntheit erkennen, genauso wie überwältigende Trauer und Schmerz.

Verdrängte Tränen schwommen in ihnen und Alec sah deutlich den Kampf, den er führte, damit diese nicht entkamen.

Er kannte diese verdrängten Tränen sehr gut. Man wollte nicht weinen, weil man dann immer so schwach war und sich so hilflos fühlte. Man wollte tapfer sein, für andere, denn wer wäre nicht überfordert, wenn der Gegenüber plötzlich in Tränen ausbrach?

Gleichzeitig wollte man so gerne zusammenbrechen, aber man wollte trotzdem irgendwie stark bleiben und sich nicht die Blöße geben. Man wollte niemanden beunruhigen. Deshalb versuchte man meist zu lächeln, wenn man Höllenqualen litt, denn ein Lächeln vermittelte Positives. Es sagte, dass alles in bester Ordnung war, obwohl es in einem drin ganz anders aussah.

Aus diesem Grund wunderte Alec es nicht, als Magnus sich ein schwaches Lächeln auf die Lippen zwang. Allerdings fiel er nicht darauf herein.

Alec verhinderte selbst meist, dass andere ihn als schwach ansahen, denn er sollte andere stützen und sie leiten. Sie sollten ihm vertrauen und Schwäche war das mehr als unvorteilhaft. Der Unterschied war nur, dass er nicht lächelte, wenn es ihm schlecht ging.

Er versuchte alle seine Emotionen ständig hinter einer eisernen Maske zu verstecken. Das galt aber nicht nur für Gefühle wie Trauer sondern auch für welche wie Freude und Glück.

Das hatte ihn irgendwann unnahbar gemacht. Erst seid er Magnus kannte, kehrten all diese Empfindungen langsam wieder zu ihm zurück und er wurde ... menschlicher. Das sorgte dafür, dass er Magnus nicht weiter ausdruckslos bei seinem Kampf beobachtete, sondern ihn in seine Arme zog.

Nur langsam erwiederte dieser die Umarmung und klammerte sich dann regelrecht an ihn. Beide knieten auf dem Bett und hielten sich einfach fest, damit keiner im Meer der Trauer verloren ging.

Bei Magnus' innerem Kampf waren nämlich auch böse Erinnerungen an seine eigene Vergangenheit, seinen eigenen Verlust geweckt worden. Nur mit Mühe konnte er die Bilder eines erst lachenden Gesichts und einer frechen Zunge und später eines blutenden Leibs verdrängen. Es ging gerade nicht um ihn sondern um Magnus und sein Wohlergehen.

Mittlerweile zitterte sein Körper und anhand der Nässe auf seiner Schulter wusste Alec, dass er losgelassen hatte. Wenn er das doch nur auch könnte ...

Er wusste nicht, wie lange sie in dieser Position verweilten, aber irgendwann löste sich Magnus wieder von ihm und wischte sich über die feuchten Wangen. Seine Augen schimmerten rot und wirkten noch immer wässrig.

Aber nun war immerhin das winzige Lächel auf seinen Lippen echt, das er ihm schenkte. Als er wie ein kleines Kind die Nase hochzog, konnte auch Alec nicht anders als zu lächeln.

Obwohl ihm der Anblick eines verweinten Magnus in der Seele wehtat, musste er zugeben, dass er etwas furchtbar Reines und Zartes an sich hatte. Dass sein Gegenüber wie immer wunderschön aussah, musste Alec wohl kaum erwähnen.

Sanft strich er nochmal über seine Wangen, um auch den Rest der Tränen von seinem schönen Gesicht zu vertreiben.
Plötzlich klopfte es an der Tür und er konnte nicht anders, als die Augen zu verdrehen.

Pünktlich wie ein Uhrwerk. Was sie wohl gestern um diese Zeit gemacht haben?

Hastig beugte er sich vor und traf eine Spontanentscheidung.
~Triff mich heute Nachmittag im Garten. Da, wo unser Picknick war. Ich muss dir etwas sehr ... Wichtiges sagen. Über mich~, wisperte er leise, bevor er sich erhob und seine Schultern anspannte,~Herein.~

Die Tür schwang auf und drei Wachen traten ein. Sie gingen zu Magnus herüber und hielten ihn fest, während sie auf das Urteil ihres Königs warteten.

Auch Magnus hatte bis dahin seine Emotionen aus seinem Gesicht verschwinden lassen und sah Alec nun entschlossen an. Dieser konnte nicht anders als gerührt zu bemerken, dass Magnus nur in seiner Gegenwart tiefere Gefühle wie Trauer zuließ.

Er hatte sich tatsächlich fallen lassen und Alec würde dafür sorgen, dass es sich für sie beide lohnen würde.

~Bringt ihn wieder in sein Zimmer. Ich habe zu tun.~
Die Wachen zogen Magnus hoch und verließen mit ihm gemeinsam das Schlafzimmer.

Sobald die Tür hinter ihnen zugefallen war, sakten Alecs Schultern herab und er fuhr sich verzweifelt durch die Haare. Er hätte das nicht tun dürfen.

Er hätte Magnus nicht versprechen sollen, dass er es ihm erzählen würde. Allein der Gedanke daran, seine dunkelste Erinnerung mit ihm zu teilen ...

Gott, was war nur über ihn gekommen?!
Nur weil Magnus vom Verlust eines geliebten Menschen erzählt hatte, was nach seinem kurzen Zusammenbruch zweifellos von einem Ereignis aus seinem eigenen Leben stammte, musste er doch nicht seinen größten Schmerz offenbaren.

Doch in diesem Moment hatte Alec nicht nachgedacht. Sein einziger Gedanke war, dass er sich Magnus öffnen und so hoffentlich dessen Leid mindern könnte. Es war nur in der Hitze des Augenblicks geschehen.

Jetzt jedoch wollte er nichts lieber als einen Rückzug machen, aber so war ein Alec Lightwood nunmal nicht. Alec Lightwood stand zu seinem Wort, selbst wenn es nur in seinen eigenen Gedanken existierte.

Er würde es versuchen, denn er wollte nicht, dass das zwischen Magnus und ihm nur von kurzer Dauer war. Denn das würde es sein, wenn er so einen wichtigen Teil seines Lebens einfach verschwieg. Er hatte zu lange dafür gekämpft, dass sie beide überhaupt eine Chance hatten, um jetzt den Schwanz einzuziehen.

Selbst wenn das bedeutete, dass er Magnus etwas so Wichtiges in die Hände legte, mit dem es ihm ein Leichtes wäre, Alec zu zerstören.

Zehn und eine NachtWhere stories live. Discover now