Kapitel 60 - Der Moment der Entscheidung

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Magnus' Sicht

Magnus war etwas mulmig zumute, als die Soldaten vor seiner Tür ihm knapp mitteilten, dass es Zeit wurde.

Nur wem wäre nicht irgendwie unbehaglich, wenn man zu seiner eigenen Hinrichtung eskortiert wurde? Magnus war es jedenfalls und er hatte auch ein wenig Angst, was ihn erwarten würde.

Zumindest redete er sich ein, dass es nur ein bisschen war, denn in Wahrheit klopfte sein Herz so stark, als wolle es aus seiner Brust springen und eigenhändig weglaufen, wenn er es schon nicht tat. Äußerlich musste er aber wie die Ruhe selbst erscheinen, doch das war nur Fassade, denn er würde nicht zulassen, dass ihn jemand in den letzten Momenten seines Lebens als schwach ansah.

Nein, er wollte stark sein, unabhängig und frei, wie er es gerne wäre. Er wollte er selbst sein, wenn er diese Welt verließ und vielleicht endlich seine Eltern wiedersah. Das hieß nicht, dass er sich auf den Tod freute, aber wie vieles in seinem Leben hatte er auch das akzeptiert und nahm es hin, dass sein Schicksal nicht mehr in seinen Händen lag.

Selbst bei seinem Outfit hatte er darauf wert gelegt, dass es wie er selbst aussah. Wie er wirklich war und nicht, wie er gerne aussehen würde. Er trug dieselben Lumpen, die er zuletzt auf der Baustelle getragen hatte, war ungeschminkt und auch seine Haare lagen ungemacht auf seinem Kopf. Kein Tuch verdeckte seinen Hals, sodass man die violetten Schammale gut erkennen konnte.

Natürlich liebte er es, sich in bunten Farben zu kleiden und den Luxus des Kleiderschranks im Gästezimmer voll auszunutzen, aber so gerne er es auch wäre, das war er leider nicht.

Er war nie reich genug gewesen, um sich das leisten zu können. Er hatte nie viel gehabt, aber er hatte gelernt, damit zu leben. Er war nunmal als einfacher Junge aus einem kleinen Niemandsdorf geboren worden und so würde er auch sterben -wenn es denn überhaupt so weit kommen sollte.

Zumindest das wollte er bestimmen, wenn ihm beim Rest schon keine Wahl blieb.

Magnus wurde eine schmale Treppe hochgedrängt, die in einer schlichten Tür endete, die so gar nichts von dem Reichtum zeigte, den man sonst überall zu sehen bekam. Kurz hielt er inne und atmete nochmals tief durch, bevor er sie aufstieß und ins Freie trat.

Er befand sich auf einer länglichen Plattform, die von einem niedrigen, vergoldeten Zaun umgeben war, der im Licht funkelte. Aber er war nichts im Vergleich zu dem Ausblick, der sich ihm bot.

Von hier oben konnte er alles sehen. Alicante mit seinen gedrungenen Häusern und den engen Gassen, die glänzenden Glastürme und die endlose Weite der sandigen und steinigen Wüste. Der Himmel war ein reinstes Farbenmeer und an seinem westlichsten Punkt begann die Sonne gerade damit, hinter einer hohen Sanddüne zu verschwinden.

Magnus liebte Sonnenuntergänge. Sie waren eine der wenigen Konstanten in seinem abwechslungsreichen Leben und er hatte es stets geliebt, der Sonne beim Verstecken zuzusehen.

Als er noch ganz klein war, hatte er seine Mutter ängstlich gefragt, ob die Sonne für immer verschwinden würde. Er war traurig bei dem Gedanken geworden, doch sie hatte nur gelächelt.

Natürlich kommt sie wieder. Sie legt sich nur schlafen und ihr bester Freund, der Mond, übernimmt vorübergehend ihre Aufgabe bis auch er sich wieder schlafen legt. Alles ist ein nie enden wollender Kreislauf, auf den du dich immer verlassen kannst.

Später hatte er sich in Momenten der Trauer und des Zweifelns stets an ihre Worte erinnert und der Sonne mit einem wehmütigen Lächeln nachgesehen. Das hatte sich nie geändert, weshalb er es auch jetzt tat.

Er wandte seinen Blick wieder nach vorne und erkannte Alexander, der sich wie ein dunkler, wunderschöner Todesengel gegen die farbenfrohe Szenerie abhob und die Arme hinter dem Rücken verschränkt hatte. Ein treuer Soldat, der mit der Kraft und Macht des Himmels über ihn als Menschen richten würde.

Zehn und eine NachtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt