Kapitel 10 - Der Versuch

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Alec konnte einfach nicht anders. Er hatte die ganze Nacht über an Magnus' Lippen gehangen.

Sinngemäß wie wortwörtlich, denn er hatte nicht selten Schwierigkeiten damit gahabt, sich auf Magnus' tatsächliche, sehr rührende Worte und nicht auf seine Lippenbewegungen zu konzentrieren oder die Art, wie er sie immer mal wieder befeuchtete, um sie am Austrocknen zu hindern.

Warum musste Magnus auch nur so schön sein? Und dann hatte er auch noch seine Augen geschlossen, was Alec ja geradezu dazu eingeladen hatte, ihn anzustarren.

Er konnte einfach nicht anders, als sich so weit vorzubeugen, dass er Magnus ganz nah war. Er konnte sogar dessen ruhigen Atem gegen sein Gesicht prallen spüren.

Alecs Hez schlug unnatürlich schnell und wieder war da so etwas wie Nervosität, aber auch Aufregung. Eine positive Art von Aufregung, die ihm eine angenehme Gänsehaut verschaffte und seine Vorfreude steigerte.

Endlich öffnete Magnus seine Augen und wurde direkt von seinen blauen gefangen genommen. Ihre Blicke verwoben sich fest miteinander, sodass beide jeweils tief in den Seelenspiegeln des anderen versanken.

Erst aus dieser Nähe konnte er Magnus tatsächliche Augenfarbe ausmachen, die sich sich je nach Lichteinfall ständig zu ändern schien. Von Braun über Grün bis Gold war schon alles dabei gewesen. Nun hingegen konnte er erkennen dass es eine Mischung aus allen drei war, die ihn quasi nur dazu einlud, sich noch mehr hineinzulehnen, um mehr von dem geheimnissvollen, fesselnden Schimmer zu erfahren.

Er war auch gerade im Begriff das zu tun. Er wollte sich vorlehnen, und endlich herausfinden, wie sich Magnus' Lippen auf seinen anfühlten. Ob sie ihn genauso verzauberten, als wenn sie ihm Geschichten von einem kleinen, aber sehr besonderen Jungen erzählten.
Er wollte wissen, ob sie genauso süß waren, wie die Worte, die aus ihnen kamen und ob sich ihr Zauber auch auf ihn übertragen und sein geregeltes Leben etwas verschönern würden.

Doch ehe es dazu kam, entfernte Magnus sein Gesicht und sah zur Seite, eine verlegene Röte auf seinen Wangen. Alec konnte sich nur mit großer Mühe einen enttäuschten Laut verkneifen.

Gleichzeitig fragte er sich, wieso Magnus sich entfernt hatte. Er hatte doch nichts falsch gemacht, nicht wahr? Oder wollte Magnus ihn einfach nicht küssen? Nur warum war er dann hier?

Fragen über Fragen türmten sich in seinem Kopf auf und vernebelten seine Gedanken. So sehr, dass er das Klopfen der Wachen erst gar nicht bemerkte. Magnus sah ihn schweigend aus seinen hübschen Augen an, sein Blick undefinierbar, aber, so weit er das feststellen konnte, distanzierter als zuvor.

Er wusste nicht ganz, wieso, aber irgendwie störte Alec das. Er wollte den warmen und sanften Ausdruck zurück, den er beim Erzählen getragen hatte. Den, den er vor seinem ... Versuch gehabt hatte.

Irgendwie hatte Alec das Gefühl, eine unsichtbare Grenze überschritten zu haben, an der Magnus von einer entspannten in eine kaum merkliche Abwehrhaltung wechselte, die aber nur zu deutlich machte, dass es genug war. Er beschloss widerwillig, sich an diese unscheinbare Warnung zu halten.

Wieder ertönte das Klopfen und riss Alec endlich aus seiner nachdenklichen Starre. Hastig stand er auf und räusperte sich kurz, um seine Fassung wiederzuerlangen, bevor er die Wachen hereinbat. Wie schon am vorherigen Tag maschierten drei Wachen in sein Gemach und packten Magnus mit professionell-emotionsloser Miene.

Besagter ließ es widerstandslos über sich ergehen, blickte aber wieder in seine Augen und hielt den Blickkontakt. Wieder lag es an Alec zu entscheiden, ob es das nun war und Magnus hingerichtet werden würde oder ob er ihm einen weiteren Tag Schonfrist schenkte.

Das war bisher noch nie vorgekommen und auch an das seltsame Gefühl der Zwiegespaltenheit konnte er sich nicht recht gewöhnen. Früher war er sich bei allem immer so ... sicher gewesen. Für ihn hatte es nur richtig oder falsch, schwarz oder weiß gegeben.

Nun jedoch gab es plötzlich dutzende Grauabstufungen, mit denen er sich überhaupt nicht auskannte. Bisher hatte er alle Anwärter gleich nach der ersten Nacht wieder verschwinden lassen, aber mit Magnus war es anders.

Er berührte irgendetwas in ihm und dieses Etwas sorgte für seine Zweifel. Er wollte doch noch so viel über den schönen Mann erfahren.

Er wollte natürlich wissen, wie die Geschichte weiterging -sogar sehr-, aber auch, was es mit dieser Distanziertheit auf sich hatte, die sein Gegenüber gerade an den Tag legte. Jedoch wollte er auch ganz persönliche Dinge über den Mann vor sich erfahren. Was er gerne mochte, was er hasste, wo er herkam und wie er dachte.

Er hatte das Gefühl, dass es sich bei Magnus lohnen würde, das nachzufragen, aber dafür müsste er ihm einen weiteren Tag schenken. Etwas, das eigentlich allem widersprach, woran Alec festhielt.

Schlussendlich war es wohl wieder der entschlossene Blick aus Magnus' dunklen Augen, der ihn überzeugte.
~Bringt ihn zurück in sein Zimmer. Es gelten dieselben Regeln wie gestern für ihn.~

Kurz huschte ein überraschter Ausdruck über Magnus' Gesicht, als ob er mit seiner Entscheidung gar nicht gerechnet hätte. Alec ließ sich nicht anmerken, dass ihn das ein Stück weit verletzte.

Schließlich wurde Magnus wieder auf die Füße gezogen und aus seinem Schlafzimmer geführt, damit er in Ruhe in den neuen Tag starten könnte.

Magnus' Sicht

Magnus war erleichtert und überrascht, dass es ihm nicht an den Kragen ging, sondern er einen weiteren Tag Galgenfrist bekam. Dennoch konnte der kurze Anflug von Euphorie das unbehagliche Gefühl in seiner Magengegend nicht verdrängen.

Der König hatte ihn küssen wollen. Bei diesem Gedanken schlug nicht nur sein Herz schneller, sondern drehte sich ihm auch der Magen um. Er hatte es tatsächlich zulassen wollen, denn er fragte sich durchaus seid einiger Zeit, wie es wohl wäre, den attraktiven König zu küssen, aber ... er konnte einfach nicht.

Er hatte sich einfach nicht überwinden können. Dazu waren die Schatten der Vergangenheit noch zu dunkel und hatten ihn genau im falschen Moment gefangen genommen.

Er wusste natürlich, dass der König nicht er war, aber plötzlich schienen die Erinnerungen zu präsent, genau wie seine damalige Panik und vor allem diese schreckliche Machtlosigkeit, die ihn förmlich gelähmt hatte. Deshalb hatte er einen Rückzieher gemacht und er fühlte sich schlecht deswegen.

Vor allem der enttäuschte und verwirrte Ausdruck des Königs hatten ihn getroffen, immerhin konnte er nichts dafür, dass er so war wie er war. Er schämte sich teilweise sogar dafür, aber er konnte es nunmal nicht ändern.

Stadessen konnte er nur hoffen, dass der König ihn irgendwann verstehen und auch dafür akzeptieren würde.

Zehn und eine NachtWhere stories live. Discover now