Kapitel 59 - Entscheidungshilfe

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Kurz vor Sonnenuntergang fand sich Alec auf dem Dach des Palasts wieder. Eigentlich war es nicht wirklich das Dach, sondern nur eine breite Plattform über dem Westflügel des gigantischen Palasts, doch man fühlte sich so weit oben, dass es einem Dach gleichkam. Das und Dach war kürzer als Plattform über dem Westflügel.

Von hier oben konnte man ganz Alicante sehen und die Glastürme schimmerten wie Rosenquarz im schwindenden Sonnelicht. Der Himmel war ein einziges Farbenspiel aus verschiedenen Rot-, Orange- und Rosatönen, deren Muster man in den breit gefächerten Sanddünen wiedererkannte, die von dieser Entfernung wie erstarrte Wellen aussahen.

Es war ein wunderschöner Anblick und sicherlich bot er die perfekte Atmosphäre für ein romantisches Abendessen.
Nur leider war Alec nicht zum Essen hier und das bedrückte ihn und seine Launen.

Den ganzen Nachmittag über hatte er sich den Kopf über die Entscheidung zerbrochen. Er hatte sich auf nichts anderes konzentrieren können, weshalb er irgendwann seine eigentlichen Pflichten auf einen anderen Tag verschoben hatte -auch ein König musste mal frei haben.

Das, was ihn frustrierte, war, dass er noch immer zu keinem eindeutigen Entschluss gekommen war. Er hatte immernoch keine Ahnung, wofür er sich entscheiden sollte und das machte ihn wahnsinnig!

Ja, er war verliebt in Magnus und er war ihm mehr als wichtig. Ein naiver Teil von Alec wollte, dass er für immer an seiner Seite blieb und ihn so anlächelte wie sonst auch.

Das war der Standpunkt seines Herzens, das gar keinen Gedanken an mögliche Tücken oder Zweifel verschwendete.

Dann war da aber noch sein Verstand, der genau das vertrat. Er könnte zwar hoffen, dass das zwischen ihm und Magnus hielt, aber er hatte keine Garantie. Er hatte keine Garantie, dass es ein Happy End ohne Herzschmerz geben würde. Es befeuerte diese Angst, verletzt zu werden und zeigte ihm dazu jegliche Szenarien, die alle voraussagten, dass er mit einem gebrochenen Herzen enden würde.

Früher, also noch vor rund elf Nächten, hätte er sich klar für seinen Verstand entschieden und wäre Magnus ohne große weitere Gedanken losgeworden. Das klang grausam, war aber eigentlich nur ein lang antrainierter Schutzmechanismus -einer von vielen.

Doch es ging schließlich nicht um irgendwen, sondern um Magnus. Magnus, der alles verändert hatte. Durch den alles Kopf stand. Wegen ihm hatte sein Herz wieder eine Stimme erlangt und diese hallte nun lauter und überzeugender als je zuvor.

Unvermittelt kam ihm das Gespräch mit seiner Mutter in den Sinn. Irgendwann während seines Dilemmas war diese zu ihm gekommen und er hatte keine Kraft gehabt, sie mit irgendeiner fadenscheinigen Ausrede abblitzen zu lassen. Also hatte er sich ihr stellen müssen.

~Ich mache mir Sorgen um dich.~
~Ist das der Grund, wieso du hier aufgetaucht bist?~, fragte er mit einem gezwungenen Lächeln.

Sie nickte als Antwort.
~Das musst du nicht. Ich komme klar.~
~Ach wirklich? Du siehst nur leider nicht danach aus. Was ist passiert?~, fragte sie fürsorlich, während sie sich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch niederließ, der sonst für Gäste reserviert war.

Alec seufzte nur und haderte mit sich, ob er es ihr nun erzählen sollte oder nicht. Nur was hatte er denn schon zu verlieren?

~Es ist wegen Magnus. Ich hab mich wie der letzte Vollidiot verhalten und wollte mich vorhin bei ihm dafür entschuldigen.~
~Deinem Gesicht nach zu urteilen, ist das wohl nicht so gut gelaufen.~

~Kann man so sagen. Er hat nicht reagiert~, erklärte er, bevor sich ein leicht bitteres Lächeln auf seine Lippen legte,~Vorwiegend weil er geschlafen hat.~

~Willst du es nochmals wagen?~
~Auf alle Fälle. Das bin ich ihm schuldig.~
~Sonst noch was?~, fragte seine Mutter, die ihn oft besser kannte als er sich selbst.

Er seufzte und vergrub kurz verzweifelt das Gesicht in den Händen, bevor er die Schultern straffte und sich wieder aufrichtete. Wenn er schon damit angefangen hatte, sich seiner Mutter anzuvertrauen, konnte er es auch gleich weiterhin tun.

Er hatte schließlich geahnt, dass sie sich nicht so leicht abschütteln lassen würde, als er all ihre Fragen beim gemeinsamen Abendessen gekonnt abgeblockt hatte. Die Sturheit hatte er wohl von ihr geerbt.

~Ich muss heute eine Entscheidung treffen, ob ich Magnus endgültig in mein Leben lasse und die Suche aufgebe oder nicht. Nur habe ich bis jetzt keine Ahnung, was ich tun soll oder wie ich mich richtig entscheiden soll.~

Sie schwieg kurz, behielt aber ihren mitfühlenden, mütterlichen Blick bei. Wenn er so darüber nachdachte, hatte sie diesen Blick immer gehabt, auch wenn er zeitweise die Fähigkeit verloren hatte, diesen zu sehen.

~Ich kann dir diese Entscheidung selbstverständlich nicht abnehmen, aber ich würde vorschlagen, du spielst beide Szenarien in deinem Kopf durch. Du musst herausfinden, welches schier unerträglich für dich ist und dich dann für das andere entscheiden. Die Entscheidung muss sich richtig anfühlen, sobald du sie ausgesprochen hast. Tut sie das nicht, war es für dich die falsche.~

Alec nickte und sah zu, wie sie seine ausgebreitete Hand auf dem Schreibtisch drückte, aufstand und schließlich wieder verschwand. Sobald die Tür zu war, lag sein Kopf wieder in seinen Händen, denn er musste ersteinmal über ihren Vorschlag nachdenken -wie über so vieles in diesem Moment.

Natürlich könnte er sich vorstellen, ein Leben ohne Magnus zu leben, denn das hatte er ja bereits getan. Es war normal und ereignislos, geregelt und perfekt durchstrukturiert, aber war es auch glücklich?

Da er seinen Gefühlen in diesem Leben kaum eine Chance gelassen hatte, konnte er das nicht genau beurteilen. Er war definitiv nicht unzufrieden gewesen, denn er hatte alles gehabt, was man sich nur wünschen konnte; Macht, Reichtum, Einfluss und die Gewissheit, beinahe alles tun zu können, was er wollte.

Das andere Leben wäre eines mit Magnus. Es würde komplizierter und voller Abenteuer sein, das nicht gerade Alecs Geschmack traf. Seine Gefühle wären an der Macht und würden ihn in jeglichen Entscheidungen beeinflussen. Er hätte das stetige Risiko im Nacken verletzt zu werden, denn durch seine Gefühle schmolzen die Gitterstäbe um sein Herz wie Eis in der Sonne.

Das Leben wäre ein bunter Wirbel aus Farben und kein Tag wäre wie der vorherige, aber vielleicht wäre dieses Leben glücklich. Vielleicht wäre er dann glücklich.

Er stöhnte genervt auf, denn es half nicht.
Er hatte so Angst, aus seinen geregelten Mustern auszubrechen, aber gleichzeitig wusste er, dass diese Muster ihn irgendwann innerlich umbringen würden.

Auch jetzt haderte Alec noch mit sich und seiner Entscheidung. Am liebsten würde er sie für immer vor sich herschieben und lieber in dieser Ungewissheit verweilen als eine Entscheidung zu treffen, die sich später vielleicht als großer Fehler erweisen würde.

Doch viel Zeit würde er nicht mehr haben, denn gerade öffnete sich die Tür am anderen Ende der Plattform und ein schwarzer Haarschopf lugte hervor.

Zehn und eine NachtWhere stories live. Discover now