Kapitel 19: Die Hatz

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Mit stapfenden Schritten näherte sich das Ungetüm, von dem Fayen sich gewünscht hätte, es wäre eine Einbildung geblieben. Jedes Aufsetzen der schweren Tatzen, die die massive Gestalt näher zu ihnen brachten, wurde von spürbaren Erschütterungen und dem Kratzen langer, gebogener Krallen auf Asphalt begleitet.

Langsam, beinahe schlendernd und doch mit verstörender Grazie Meter um Meter hinter sich lassend wanderte es die Straße entlang, die sein Gebiet durchdrang. Seine Anwesenheit brachte eine unheilvolle Schwere mit sich, getragen vom süßlichen Geruch der Verwesung.

Ihr immer schneller schlagendes Herz dröhnte in ihren eigenen Ohren, dass es beinahe sein bedrohliches Schnaufen übertönte. Wie erstarrt musterte Fayen das Tier vom breiten Kopf über den gewölbten, mit wenigen Büscheln grauen Fells bestückten Rücken bis hin zu den todbringenden Pranken.

Nie hätte sie sich auch nur vorstellen wollen, wie riesig die einst pelzigen Anhänger des Winterschlafs heute waren. Und erst recht nicht, dass sie mal einem gegenüberstehen würde.

Einem, der nun mit der Pfote prüfend gegen Louises B-Säule drückte, dass der arme Pick-up leichte Schräglage bekam. Jetzt war ihr klar, was sich an dem hölzernen Tor gerieben hatte. Seine schiere Größe und nicht zuletzt das triefende Maul bestätigten ihr quälendes Gefühl. Sie sollten nicht hier sein.

Es brummte bei jedem Atemzug, schnüffelte um ihr Fahrzeug herum und lenkte ihren Blick auf den Vordersitz. Ihr Gewehr stand noch immer aufrecht zwischen den Sitzen, keinen Meter von dem Tier entfernt, aber unerreichbar für sie.

Haltsuchend umklammerte sie einen Wurfarm ihres Bogens, wenigstens den hatte sie bei sich. Sie nahm Maß, schätzte, wie schnell sie ziehen, spannen und schießen könnte. Wie viel Zeit ihr blieb, bevor der Bär die knappen sechs Meter, die sie trennten, überwunden und sich auf sie gestürzt hätte.

Geifernd sah der sie nun an. Ein Schuss, direkt zwischen die glasigen, hervortretenden Augen in unnatürlichem Grün, könnte vielleicht ...

Gage bemerkte ihren abschätzenden Blick. Ehe sie ihre Waffe ziehen konnte, hatte er nach ihrer wandernden Hand gegriffen. Mahnend schüttelte er den Kopf, seine Stimme nur ein Flüstern im lauen Wind.

»Mach ihn nicht wütend.«

Doch das tiefe Grunzen, das auf seine Worte folgte, ließ sie wissen, dass er sie nicht in seinem Revier duldete. Aussitzen war eine beschissene Idee. Gage schluckte, als er vorsichtig hinter sich griff, um den Riegel weiter zu sich zu ziehen.

»Durch das Tor. Ganz langsam.«

Nur einen Wimpernschlag lang zögerte sie, doch sein penetrantes Schieben und das grimmige Keuchen überzeugten sie bald, ihre weichen Knie zum Rückzug zu animieren.

Als er sie auf der anderen Seite wusste, machte auch Gage einen Schritt zurück, den Blick immer noch auf den Bären gerichtet, der sie mit gesenktem Kopf beobachtete.

Gleich geschafft. Sie würden ganz ruhig aus seinem Gebiet verschwinden und alle blieben in einem Stück. Guter Deal. Gerade noch überkam ihn das Gefühl von baldiger Sicherheit, da stieß das Tier ein gewaltiges Brüllen aus.

Der ohrenbetäubende Donner jagte Schrecken und Angst durch ihre Brust, als Gage sich durch das Tor zwängte, nun kein bisschen langsam mehr.

»Lauf! Lauf, lauf, lauf!«

Er schob sie vorwärts, dass sie über ihre eigenen Füße stolperte, doch schon das erste Krachen gegen das marode Holz trieb sie weiter über die Brücke. Die Barrikade knackte bedrohlich unter jedem Stoß, ächzte ob der puren Kraft, die auf sie wirkte.

Fayen warf einen Blick über die Schulter, gerade als das letzte Hindernis zwischen ihnen brach. Das Tor sprang aus seiner Angel, unzählige Splitter stoben nur so um den wütenden Jäger, der mit einem entsetzlichen Brüllen seine Hatz ankündigte.

Fayen || Outland's RustDove le storie prendono vita. Scoprilo ora