Im Haus der Spiegel (1)

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Mit einem Knarzen fällt die Tür hinter uns ins Schloss.

Sofort sind alle Geräusche ausgeblockt, als hätten wir plötzlich Noise Cancelling Headphones auf. Ich als Intro müsste mich mit Stille eigentlich auskennen, aber so eine habe ich selten erlebet. Es ist nicht diese staubige, gelehrsame Stille, die es in Bibliotheken gibt, hin und wieder unterbrochen vom Rascheln einer Seite oder Wispern. Diese Stille ist schwer und hallend, wie in einer Kirche, einer Krypta.

Einem Grab.

Feine Steinchen knirschen auf dem nassen Boden unter unseren Füßen, als wir den Fackeln folgen, tiefer in den Tunnel.

Zwei oder dreimal macht der Weg eine Biegung, es fällt mir zunehmend schwer, mich zurecht zu finden. Vielleicht hätten wir eine Schnur mitnehmen sollen, die uns wieder den Weg nach draußen zeigt, wie Ariadne im Labyrinth des Minotaur? Andererseits hätten wir dann auch gleich ein Neonschild aufstellen können (Huhu, hallo, hier sind wir, fangt uns doch!).

Allmählich steigt der Tunnel an und geht in gemauerte Gänge über. Jetzt gibt es auch Fenster. Kleine, unverglaste Schießscharten, unter denen das Meer gegen die Felsen donnert.

Dann hören wir plötzlich ein Geräusch. Es hallt durch das Netz aus steinernen Gängen, überschlägt sich und wirft Echos in alle Richtungen. Eine lange, schaurige Wehklage.

Da ist es wieder. Das Prickeln in meinem Nacken, jetzt so unangenehm, dass ich fast Mos Hand losgelassen hätte, um mich zu kratzen.

„War das eine Frau?", wispere ich.

Mo zieht die Augenbrauen zusammen. „Klingt eher wie eine Furie."

Bilder huschen durch meinen Kopf, ein schwacher Nachhall meines Lateinunterrichts: geflügelte Frauen mit Peitschen in den Händen. Rastlos und rasend, stets bereit göttliche Strafen über ihren Opfern zu vollstecken.

Furien. Die Folterknechte der griechischen Mythologie.

„Ist das in Fabelreich so üblich? Furien als Gefängniswächter?" Ich bemühe mich, meine Stimme leise zu halten, nicht ganz so entsetzt zu klingen, aber es gelingt mir mehr schlecht als recht.

„Nein", sagt Mo sofort. „Das Kolleg arbeitet nicht mit den Wesen der Nacht zusammen. Wir haben Wächter dafür. Ausschließlich Menschen." Mo hält inne. Vor uns gabelt sich der Tunnel. „Es ist so weit."

„Okay." Ich hole einmal tief Luft, dann lasse ich seine Hand los. Irgendwie fühle ich mich sofort nackt. Als wäre ich ein Ritter und hätte gerade meinen Schild und mein Schwert abgelegt. „Viel Glück. Wir sehen uns in einer Stunde."

„Lina?", sagt Mo, bevor er sich umwendet. „Pass auf dich auf. Egal, was passiert. Egal, was du siehst. Ich bin da."

Ich nicke und straffe die Schultern. Dann gehe ich weiter, bevor mich der Mut verlässt, suche meinen eigenen Weg durch die Dunkelheit.

Schon nach ein paar Metern spüre und höre ich Dinge, die ich nicht wahrgenommen habe, als Mo noch bei mir war. Meinen Herzschlag und das Pochen des Blutes in meinen Ohren, zum Beispiel. Den Schweiß auf meinen Handflächen. Das Rascheln in einer dunklen Ecke. Das Quieken einer Maus. Ich kann sogar meine eigenen Gedanken hören, den Klang meiner Stimme.

Wie lang ist eigentlich eine Stunde?

Zu beiden Seiten des Gangs tauchen jetzt Türen auf. Schmucklose Holztüren, mache davon nur angelehnt. Natürlich kann ich nicht widerstehen. Hinter der ersten Tür liegt eine dunkle Waffenkammer, erhellt von blauen Fackeln. Schwerter, Speere und Köcher voller Pfeile hängen in Halterungen an den Wänden und Flammen lecken über ihren Stahl. Ich komme noch an drei weiteren Waffenkammern vorbei und einem Raum voller bunter Fläschchen, Kräuter und blubbernder Kessel. Auf dem ganzen Weg begegnet mir keine Seele, bis ich zur Tür am Ende des Gangs gelange.

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