Reale Fiktion(2)

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Ich weiß immer noch nicht wohin mit all meiner Wut, als ich mich bei den Brennnesseln hinter der Sporthalle auf den Boden knie und meinen Rucksack aufreiße.

Fantasy ist Weltflucht! Wenn die wüsste, wie nah sie damit der Wahrheit gekommen ist. Demetra hat angedeutet, dass ich heute mein Talent erfahre. Gut. Hoffentlich ist es irgendwas, mit dem ich Kilian und seinen Fanclub zu Nacktschnecken verwandeln kann.

Zwischen den ganzen Schulheften ist das Buch bis auf den Taschenboden gerutscht. Ich ziehe es heraus und wische ein paar Kekskrümel vom dunkelblauen Einband. Er ist mit einem feinen Stoff bespannt, in den goldene Sterne eingeprägt sind. Aus Demetras Truhe durfte ich mir irgendein Buch auszusuchen, das mich anspricht und dieses hier war eines der Schönsten. Typisches Cover-Opfer eben, aber der Inhalt ist in diesem Fall auch wenig aussagekräftig. Demetra hat mir erklärt, dass bei der Erschaffung von Fabelreich der Text aus allen Portal-Büchern gelöscht wurde. Stattdessen sind die leeren Seiten jetzt voll mit Notizen der verstorbenen Wächter, denen mein Buch einst gehörte. Nach dem Tod eines Wächters geht das Buch zurück an das Kolleg und es hat sich zu einer Art Tradition entwickelt, darin Lebensweisheiten an den nächsten Besitzer zu hinterlassen. Ich habe noch nicht nachgeschaut, welche Ratschläge mir meine Vorgänger erteilen wollten, und ich bezweifle, dass ich ihre Schriften lesen kann. Im Moment gibt es ohnehin wichtigeres zu tun.

Wahllos schlage ich irgendeine Seite auf und halte das Buch fest mit beiden Händen. Gestern habe ich den ganzen Abend geübt, jetzt muss es einfach klappen. Mit geschlossenen Augen stelle ich mir das Kolleg vor, das alte Herrenhaus zwischen Wald und Meer, so intensiv, dass ich die salzige Luft fast schon schmecken kann.

Noch bevor ich die Augen öffne, spüre ich ihn. Um mich herum formt sich der altbekannte Strudel aus Licht. Heute, vielleicht, weil ich schon weiß, was kommt, geht es viel schneller. Einen Wimpernschlag später stehe ich bereits in Fabelreich.

Ich atme einmal tief durch. Irgendwie muss ich mich immer noch an den Gedanken gewöhnen, dass ich nicht träume. Dass alles hier echt ist, kein Buch und keine infantile Fantasie, wie Frau Müller-Huber sagen würde. Ein ganzes Land voller Magie. Wahrer Magie.

Diesmal bin ich nicht auf der Strandseite, sondern direkt vor dem Haupteingang gelandet. Über mir ragt das alte Kloster in den Himmel, grau in grau mit den tiefhängenden Wolken. Während meine Augen die efeubewachsene Fassade hinaufwandern, ertappe ich mich beim Gedanken daran, welches der Fenster wohl Mo gehört. Ob es für ihn schön war, hier aufzuwachsen? Was macht man den ganzen Tag in einem Haus, das weder Strom noch Internetanschluss hat? Halt, nein. Strom zumindest gibt es, sonst würden die Lampen nicht brennen.

Die Eingangstüre steht weit offen und so trete ich ohne große Ankündigung in die Halle. Sie ist fast so leer wie bei meinem ersten Besuch. Nur einer der Sessel vor dem Kamin ist besetzt.

„Hi!" Das Mädchen springt auf, als es mich im Türrahmen findet. „Lina?"

Ich nicke. „Dann bist du Roxy?"

„Genau. Für heute dein persönlicher Guide. Du solltest eigentlich schon vor ner halben Stunde kommen! Hat Demetra mir zumindest so gesagt. Na, gut, dass ich eh in Ruhe lesen wollte. Bei deiner deutschen Überpünktlichkeit." Sie zwinkert mir zu, aber als sie merkt, dass ich ihrem Witz nicht ganz folge, wird sie schnell wieder ernst, fast besorgt. „Es ist immer aufregend eine Neue zu bekommen. Ich habe das erst einmal erlebt. Hast du Angst? Ach, mach dir keine Gedanken. Als mein Talent geweckt wurde, war ich genauso nervös wie du."

Offengestanden fällt es schwer, das zu glauben. Allein die Geschwindigkeit in der Roxy spricht, wirkt nicht so, als könnte sie irgendetwas einschüchtern. Ihr ganzes Auftreten ist, ich kann es nicht anders beschreiben, einfach cool. Sie hat graugefärbte Haare, die ihr fast bis zu den Hüften reichen. Dazu trägt sie eine silberne Brille mit runden Gläsern und zwar so weit vorn auf ihrer Nasenspitze, dass ich mich frage, wie sie damit überhaupt etwas sehen kann. Ihr Outfit besteht aus einer abgewetzten Lederjacke im selben Farbton wie ihre Lippen: Schwarz. Ich wusste gar nicht, dass es schwarzen Lippenstift gibt. Ganz zu schweigen davon, dass ihn wirklich jemand kauft und benutzt.

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