Die Herrin von Schatten und Wellen

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Sie hebt den Blick, schaut mir in die Augen.

Dichte, schwarze Locken, durchzogen von Grau. Das faltige, jetzt nicht mehr ganz so freundliche Gesicht, zur Maske erstarrt.

Alumna Constanze.

Für einen Moment starren wir uns nur an, Mo, sie und ich. Mo hat es die Sprache verschlagen. In seiner Miene steht das blanke Entsetzen, aber meine Gedanken rasen, während ich versuche, einen roten Faden aus hundert einzelnen Szenen zu ziehen. Langsam, einer nach dem anderen, fallen in meinem Kopf die Dominosteine.

...Roxys Worte bei meiner Einführung. Das ist Alumna Constanze, zuständig für Justiz. Also alles, was mit Gericht, Strafen und Gefängnis zu tun hat...

Und somit auch verantwortlich für Damons Bewachung. Die perfekten Position, um gefälschte Berichte an die Priora weiterzuleiten.

...Mos Stimme einen Tag nach Reigens Mord, dort unten am Strand. Dem Strand des blauen Kollegiums. Ich hab mal in nem Krimi gehört, dass manche Mörder an den Tatort zurückkehren...

Und wer taucht auf, ein paar Minuten später? Constanze.

...Eleanors Verbannung, ihre Vergiftung mit Milkweed. Die Droge ist verboten, gerade wegen ihrer Wirkung. Nur die Alumni haben Zugriff auf Demetras Vorrat. Die Alumni, natürlich...

...Damons letzte Worte an Demetra. Weißt du, was mir am meisten Freude bereitet? Dass du sterben wirst, ohne deinen Verräter zu kennen. Ohne zu wissen, wer es wirklich war, der dir das Messer in den Rücken gestoßen hat. Warum habe ich nie begriffen, wie wörtlich Damon das gemeint hat? Beim Duell stand er Demetra gegenüber. Aber das Messer hatte sie in den Rücken getroffen. Damon konnte sie damit nicht verletzt haben. Es musste jemand anderes im Saal gewesen sein.

...Und dann Constanzes eigene Worte, vor dem Gewächshaus mit Blick auf Demetras reglosen Körper. Es wäre gnädiger, sie sterben zu lassen...

„Das warst du!" Ich stoße die Worte hervor, atemlos. So viele Indizien und keiner von uns hat es auch nur in Erwägung gezogen. „Die Verräterin im Kolleg. Du hast Damon im Gefängnis geholfen. Hast ihn gedeckt, damit er seine Armee aufbauen konnte! Du hast Eleanor vor Gericht gebracht und ihr das Milkweed untergemischt! Du hast Reigen umgebracht." Ich schlucke. „Und Demetra..."

Constanzes Miene bleibt ausdruckslos. „Ich hätte meine Rolle noch weiterspielen können. Aber ich glaube, an diesem Punkt macht es nicht mehr viel Sinn."

„Schlange!" Mo macht einen Schritt auf sie zu. Seine Hände sind zu Fäusten geballt und er bebt am ganzen Körper. „Du verräterische, bösartige Schlange! Ich mach dich fertig. Ich schwöre dir, ich-"

„Vorsicht, Mortimer" Ein Schmunzeln huscht über Constanzes Lippen. „Sprichst du so mit einem ranghöheren Wächter? Wenn Demetra das-"

„Wag es nicht! Du nimmst ihren Namen nicht in den Mund!" Er spuckt auf den Boden. „Mörderin!"

Das Lächeln verschwindet aus Constanzes Gesicht. „Gebt mir das Buch."

„Weißt du was?" Um Mos Fäuste tanzen jetzt Schatten. „Leck mich!" Dann stürzt er ohne Vorwarnung los, auf Constanze zu. „Lina, lauf weg!"

Eigentlich sträubt sich alles in mir gegen seine Anweisung. Ich will in seine Richtung rennen, mit ihm auf Constanze zu, bis mir das Buch in meiner Hand wieder einfällt. Mo hat Recht. Es muss verschwinden, so schnell wie möglich. Nach Fabelreich, Stormglen, wo auch immer. Nur weg von Damon und Constanze.

Ich glaube, so schnell wie jetzt habe ich noch nie meine Beine in die Hand genommen. Hinter mir knistern die Schatten, während ich den Gang zurück in Richtung Treppenhaus spurte. Im Laufen versuche ich, das Portalbuch aufzuschlagen, aber noch bevor meine Finger die Seiten auseinanderziehen können, explodiert über meinem Kopf die Decke. Ein Schatten bohrt sich wie ein Pfeil zwischen die Deckenplatten, bricht sie aus der Verankerung. Mit einer Wolke aus Staub krachen sie vor mir auf den Boden.

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