Wachstumsschmerzen

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Fahle Haut, Augenringe und hohle Wangen...

Mein Anblick im Spiegel ist nicht gerade vielversprechend. Ich habe kaum geschlafen und wenn dann unbequem zusammengestaucht in Demetras Sessel. Selbst nach ein paar Spritzern eiskalten Wassers sehe ich noch aus wie gerädert, ganz zu schweigen von meinen Gefühlen.

Mo ist fort. Er hat sich irgendwann im Morgengrauen zurückgezogen, nach stundenlangen Diskussionen. Oder, naja, seien wir ehrlich. Nach stundenlangen Streitereien.

Du kannst meine Entscheidung scheiße finden, kannst mich sogar dafür verachten, hatte er gesagt. Aber akzeptieren musst du sie. So wie ich deine akzeptiere.

Meine Entscheidung. Mir läuft ein Schauer über den Rücken, als ich den Mantel der Priora umlege. Der Stoff ist fließend, aber er fühlt sich an, als seien zusätzliche Gewichte eingenäht. Kein Vergleich zu Eleanors leichten Schattenumhang. Der Umhang der Priora liegt schwer auf meinen Schultern, lässt mich vor dem Spiegel kleiner werden, fast als sei er für stärkere Frauen als mich gemacht. Asteria hat leicht reden, wenn sie sagt, ich würde genügen. Sie muss ja auch nicht Eleanor Murrays Erbe antreten. Die Frauen, die mir vorausgegangen sind, waren älter als ich, weiser, mächtiger. Wie soll ich das schaffen, allein? Einen Moment lang sehe ich sie, Eleanor und Demetra in das Grau gekleidet wie Statuen, groß und ehrfurchtgebietend. Dann sehe ich nur wieder mich.

Lina Büchner, Priorin der Wächter von Stormglen.

Ich stelle mich vor dem Spiegel gerader hin, richte mich auf. Wie hat meine Sportlehrerin immer gesagt? Schultern zurück, Brust raus. Fast automatisch werde ich größer.

Es hilft alles nichts. Ein Teil von mir will noch immer nicht wahrhaben, dass Eleanor tot sein soll. Vielleicht irrt Asteria sich mit ihrer Vorhersage, vielleicht spielt die Elfe auch ein eigenes Spiel. Bis jetzt klammere ich mich an die Hoffnung. Aber wenn es stimmt, wenn Damon sie getötet hat, sie und Demetra, dann werde ich nicht ängstlich geduckt vor ihm erscheinen.

Das ist dein Karios, dein Moment der Entscheidung, hatte Asteria gesagt.

Und wie er das ist.

Ich höre die Schreie schon als ich aus dem Eingangsportal trete. Es ist früh am Morgen und neblig wie so oft, trotzdem hat sich schon eine beträchtliche Anzahl an Wächtern auf der Rasenfläche vor Stormglen eingefunden. Genauer gesagt, alle in Fabelreich lebenden Wächter. Niemand will Damons Boten verpassen.

Irgendwie habe ich damit gerechnet, dass wieder Margret kommen würde. Aber hinter dem Schutzbann steht eine andere Frau. Ah. Das erklärt zumindest das Geschrei hier.

Die Wächter stehen überall auf dem Rasen verteilt. Ich erkenne Nicolas und Mo, daneben Eric und sein Kollegium, aber direkt vor der Botin hat sich eine Menschentraube aus dem blauen und grünen Kollegium gebildet, angeführt von Roxy. Unter unseren Füßen erzittert der Boden, ich kann die Pflanzen im Erdreich rumoren hören und mir wird schnell klar, was Sache ist. Ich laufe schneller.

„Wie kannst du es wagen, hier aufzukreuzen?" Roxys zornige Stimme hallt zu mir herüber. „Du hast uns hintergangen!"

„Du hast sie umgebracht." Gegen Roxys Stimme ist Faustias leise, fast neutral. Trotzdem liegt eine Traurigkeit darin, die mehr anklagt, als jeder Schrei. „Schwesternmörderin."

Roxy schüttelt den Kopf. „Waren wir so schrecklich? So schlimm, dass wir das hier verdienen?"

„Es ist nichts persönliches", sagt Constanze leise.

„Nichts per-"

„Genug!" Fast bin ich selbst erschrocken, wie herrisch ich klinge.

Alle Augen richten sich auf mich, während ich zwischen den Reihen des grünen und blauen Kollegiums auf Constanze zugehe.

Ein spöttisches Lächeln zieht sich über ihr Gesicht. „Hallo, Lina." Ihr Blick wandert über meinen Umhang und ihr Lächeln wird noch breiter.

„Verschwinde Constanze. Hast du noch nicht genug gehört?" Ich nicke in Richtung Roxy und Faustia. „Niemand hier wird dir zu Damon folgen. Die Wächter stehen zusammen."

„Wirklich? Das würde ich gern selbst herausfinden."

„Gut. Wie du willst." Ich drehe mich um, hebe die Stimme. „Wächter von Stormglen. Damon Blackwell bietet euch einen Platz in seinen Reihen gegen Verrat am Kolleg und an mir, eurer Priora. Wer will ihm folgen?"

Schweigen senkt sich über die Wiese. Mein Herz schlägt schneller, als ich die eisernen Mienen der Wächter sehe. Keiner rührt sich. Ich will mich gerade wieder triumphierend zu Constanze umdrehen, als plötzlich ein Raunen durch die Kollegien geht. Die Menge teilt sich und lässt jemand durch, einen Mann, nein, einen Jungen.

„Ich", sagt Mortimer.

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