Das Falsche, Böse und Hässliche (2)

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Erst auf den Treppenstufen vor dem Museum hole ich sie wieder ein. Leichter Nieselregen fällt. Um uns herum sind Straßen und Häuserzüge hinter einem dunstigen Schleier verschwunden. Es ist erst Vormittag, aber die Straßenlaternen brennen schon und der Wind treibt regennasses Herbstlaub über den Asphalt.

Eleanor schließt gerade die Knöpfe ihres wollenen Mantels. „Keine Sorge, sie werden dich nicht vermissen. Wir müssen uns nur kurz unterhalten. Aber davor brauche ich dringend einen Kaffee. Gott, ist diese Frau anstrengend. Wie hältst du es nur mit so einer Lehrerin aus?"

„Bin mir ziemlich sicher, sie denkt gerade das gleiche über dich", murmele ich, aber ich grinse dabei. Meine Wut auf Eleanor hat sich endgültig in Luft aufgelöst. Noch nie habe ich Frau Müller-Huber sprachlos gesehen. Allein für diese Vorstellung verdient sie einen Oscar.

Eleanor führt mich über die Straße zu einem nahen Starbucks. Der Geruch nach kalter Luft vermischt mit zu Boden gedrückten Abgasen schlägt uns entgegen, während wir uns durch den Verkehr schlängeln, und erinnert mich wieder daran, warum ich Städte hasse. Ich bin froh, als sich die Tür des Starbucks hinter mir schließt und uns eine Wolke aus Karamell- und Kaffeebohnenduft empfängt. Wir setzen und an einen kleinen Tisch am Fenster, von dem aus man die vorbeifahrenden Autos beobachten kann. Eleanor zieht ihren Mantel aus, darunter trägt sie eine grau karierte Hose und ihren klassischen in die Hose gesteckten schwarzen Rollkragenpullover. „Was willst du trinken?"

„Irgendwas mit viel Zucker. Ich nehme an, du zahlst? Schließlich bist du ja jetzt offiziell meine reiche Erbtante."

Sie wirft mir einen vernichtenden Blick zu, aber ich grinse nur unschuldig.

Während Eleanor in Richtung Theke verschwindet ziehe ich heimlich mein Handy raus und tippe die Worte Pieta und Michelangelo in meine Suchmaschine. Ich bin gerade dabei, die überlebensgroße Marmorstatue von Maria, die den toten Jesus auf dem Schoß hält, näher ran zu zoomen, als ich Eleanors Stimme durch den Laden fauchen höre. „Einfach einen normalen Kaffee! Schwarz! Ohne Hafermilch, Sojamilch, Sirup, Zucker oder sonst was! Ist das so schwer? Und ich hätte gerne eine richtige Tasse, nicht so einen Pappbecher."

Als sie zurückkommt, kann ich mir das Grinsen nicht verkneifen. „Gab's Probleme?", frage ich bemüht unschuldig.

„Ach" Sie winkt ab und schiebt mir meinen Becher zu. „Ich bin einfach zu selten in dieser Welt. Die Dinge ändern sich mittlerweile so schnell, dass mein Geist nicht mehr nachkommt. Seit wann macht man Bilder von seinem Essen?"

„Seit es Instagram gibt." Ich nehme den Deckel von meinem Getränk und versuche das Lachen zu unterdrücken. „Da zeigt man anderen, was man gerade tolles erlebt."

„Und es gibt Leute, die sich das ernsthaft anschauen? Ein Bild von einem Pappbecher mit einer stilisierten grünen Meerjungfrau drauf?" Eleanor hat die Ellenbogen auf den Tisch gestützt und hält ihre Tasse zwischen den gespreizten Fingerspitzen. „Machst du da mit?"

„Selten. Mir fehlt das Talent zur Selbstdarstellung."

Eleanor schnaubt. „Spricht für dich."

„Ich spiele keine Spiel, das ich nicht gewinnen kann", sage ich schulterzuckend, „Mein Leben sieht auf Fotos nicht wirklich spannend aus. Es seitdem, sie erfinden irgendwann ein Gerät mit dem man anderen den Inhalt seines Kopfes zeigen kann."

„Sowas gibt es schon. Man nennt es Buch."

Ich schaue zu Eleanor auf, die mich über den Rand ihrer Tasse mustert. Ich kann nicht anders als Lächeln und nach kurzem Zögern erwidert sie es.

Dann räuspere ich mich. „Du wolltest reden."

„Richtig." Eleanor stellt ihre Tasse auf den Untersetzer, langsam und bedächtiger, als nötig gewesen wäre, wie um sich Zeit zu verschaffen. „Demetra ist der Meinung, wir sollten nicht mehr streiten."

„Demetra?"

„Und ich auch. Du musst mich nicht sympathisch finden und du musst meine Meinung nicht teilen. Aber als ein Kollegium sollten wir reden können, ohne, dass es im Chaos endet." Sie holt Luft. „Ich bitte dich um Entschuldigung. Das neulich tut mir leid."

„Wow." Ich kann das Sticheln einfach nicht lassen. „Muss dir ziemlich wehgetan haben, das zu sagen." Als Strafe verbrenne ich mir prompt den Mund an meiner heißen Milch.

Eleanor dreht ihre Tasse auf dem Untersetzer. „Ich kann es dir nur anbieten."

„Entschuldigung angenommen. Und mir tut's auch leid. Alles, was ich dir an den Kopf geworfen habe."

Sie nickt. „Dann wäre das ja geklärt. Demetra hat mir noch etwas für dich mitgegeben." Sie greift in ihre Manteltasche über dem Stuhl und schiebt etwas zwischen uns auf die Tischplatte. Es ist ein Buch. Der Einband ist mit dunkelviolettem Stoff bespannt. Eine Frau in einem griechischen Kleid, mit einem zarten Schleier über dem Gesicht, Blumen im Haar und einer Eule auf der Schulter ist in Silber auf das Cover geprägt. „Dein neues Portalbuch", sagt Eleanor, als ich das Buch vorsichtig anhebe und über den Einband streiche. Es hat sogar einen Silberschnitt, allerdings ist der schon ziemlich abgegriffen.

Ich öffne das Buch und blättere durch die Seiten. Sie sind voller handschriftlicher Notizen meiner Vorgänger. Altenglisch, auf den ersten Blick.

„Danke", sage ich und stecke das Buch in meinen Rucksack.

Eleanor trinkt ihren Kaffee aus. „Mo erwartet dich heute Mittag im Kolleg. Er übernimmt deinen Unterricht." Sie steht auf und nimmt ihren Mantel.

„Heute Mittag geht nicht", sage ich seufzend, „Ich muss noch schreiben. Die neue Geschichte für Frau Müller-Huber."

Eleanor hält inne. „Ich dachte, du spielst keine Spiele, die du nicht gewinnen kannst?" Sie lässt den Satz in der Luft hängen. Kurz wirkt es, als würde sie noch etwas sagen wollen, aber sie schüttelt den Kopf und wendet sich zur Tür. „Grüße Frau ein-Nachname-reicht-nicht von mir."

„Mach ich." Sicher nicht. „Und danke für Eure weisen Worte, Archimedes."

Eleanors Mundwinkel verziehen sich zu einem Schmunzeln. „Du meinst sicher, Aristoteles. Archimedes war der Mathematiker."

„Hau ab!"

Sie lächelt. Dann öffnet sich die Tür, ein Windstoß voller Herbstblätter fegt ins Café, und sie ist verschwunden.

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