Das hier ist ein Anfang

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„Sie muss sterben."

Eine ganze Weile sind die drei Weisen nun schon stumm geblieben, haben Statuen gleich zu den Sternen emporgeblickt, wo sie alles sehen, vergangenes und kommendes.

Auf die Worte der Elfe hin wendet ihr der Zentaur sein altes, faltiges Gesicht zu. „Das Mädchen?"

„Die Frau, die sie suchen. Eleanor."

„Die Zukunft hat verschlungene Wege", meint der Phönix jetzt, „Es kann anders kommen."

„Der Tod findet jeden", sagt der Zentaur. Es ist ein alter Satz, gemacht, um Wesen wie sie, die der Unsterblichkeit so nahe kommen, an ihre Endlichkeit zu erinnern. Die drei Weisen nicken, in feierlich ernstem Gleichklang.

„Sie wird sterben." Der Ausdruck der Elfe ist vollkommen neutral. Ihr Gesicht scheint hart wie Marmor, nicht mal der Wind rührt ihre Gestalt. „Wenn nicht heute, dann morgen. Ihre Wege werden kurz. Sie ist bald am Ziel. Der Tod ist ihr Kairos, ihre Prüfung. Der Moment, in dem sich alles entscheidet, in dem die Welt sehen wird, welche Art von Kern sich unter ihren Stahl verbirgt. Sie kommt mir nicht vor, wie jemand, der vor einer schwierigen Prüfung zurückschreckt. Diese wird sie bestehen."

  Manchmal spricht der Tod lauter als das Leben und wie jemand stirbt erzählt mehr über einen Charakter, als alle Werke, die er je geschaffen hat. Die Elfe weiß das. Sie hat lange genug gelebt.

„Was macht dich so sicher?", fragt der Phönix.

Wie soll sie das erklären? Auch nach so vielen Jahrhunderten fehlen ihr manchmal die Worte, ihre Visionen zu beschreiben. Der Tod dieser Frau würde Wellen schlagen. Wie ein Stein, der eine lange erstarrte Oberfläche aufbricht. Er würde der Funke sein. Der Samen, aus dem ein Baum wächst. Der Regen für das ausgedörrte Feld.

„Ein ziemlich blutiger Regen." Mal wieder hat der Phönix ihre Gedanken gelesen. Warum hält er sich nicht aus ihrem Kopf fern, wenn er nicht versteht, was darin vorgeht?

„Was Frucht bringen will, muss sterben", sagt sie. Noch so ein alter, weiser Spruch der Menschen. „Unsere Welt fordert Opfer. Es ist das Prinzip, auf dem sie gebaut ist, seit Urzeiten. Du kannst es leugnen, dagegen ankämpfen. Aber das macht es nicht weniger wahr."

Hecate und Myrtha.

Eleanor und Margret.

Es kann kein Zufall sein.

Warum jetzt eine Fabelnacht? Warum das Kollegium der Schatten? Wenn jemand Schulden macht, die er nicht begleichen kann...Wer kommt dann dafür auf? Wer sühnt Hecates Schuld? Wer bringt zu Ende, was Myrtha begann?

Die Magie vergibt nicht einfach so. Aber sie gibt zweite Chancen.

Man kann den Tod nicht überwinden. Nur die Angst davor. Den Feind zum Freund machen. Ist das nicht die schreckliche Erkenntnis aller Helden?

Was sind das für Stimmen?  Vergangenheit? Zukunft?

Ein Haus aus grauem Stein. Ein Kelch voller Schatten. Eine Schwester in den Armen der anderen. Ein Wind, der den Frühling bringt. Eine Distel.

Warum hast du dich nicht gewehrt?

Ich hatte es verdient. Ich hätte dich beschützen sollen. Es tut mir leid.

Eleanors Tod wird nur der Anfang sein. Der Fuke, der Stein, der Samen. Manchmal muss etwas sterben, dass etwas anderes wachsen kann.

Stark wird man immer erst, wenn man es werden muss.

Lina?

Die Saat, die im Schatten aufgeht, bringt leuchtende Frucht. Ein Licht, das die Gefangenen befreit, die Zerstreuten zusammenführt und die Völker erlöst. Soteria.

Diese Stimme kennt sie. Es ist hunderte von Jahren her, dass die Elfe die Prophezeiung gehört hat, am Sterbebett ihres Vorgängers. Die Verheißung eines neuen Morgens.

Erst wenn das Kind der Schatten zusammenführt, was die Jahrhunderte getrennt, wird Hecates Fluch gebrochen. Du wirst die erste sein, Asteria. Die erste auf der Schwelle einer neuen Welt.

Nachhause. Endlich wird es wahr. Nachhause, nachhause, nachhause!

„Da kommt jemand"

Die Elfe schlägt die Augen auf. Der Mann stolpert auf sie zu, die Hand auf die Seite gepresst, als habe er stechende Schmerzen.

„Schon zurück, Nicolas?" Ihre Augen ruhen auf ihm. Sie fragt nur der Form halber, Menschen verunsichert es, wenn sie zu viel vorrausschaut. Natürlich hat sie ihn kommen sehen. Und natürlich weiß sie auch, warum er da ist.

„Die Kinder", keucht er, „Mortimer und Lina. Sie sind fort! Ich muss ins Kolleg. Ich muss sie warnen!"

Ihre Gedanken singen weiter, das süße, alte Sehnsuchtslied. Nie ging es ihr so nah wie heute Nacht.

Nachhause, nachhause, nachhause!

Die Elfe legt den Kopf in den Nacken, Mondlicht fließt milchig über ihr Gesicht. „Und so beginnt es", flüstert sie den Sternen zu.

FabelblutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt