Prolog

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Manche Nächte waren dunkler als andere.

Dunkel wie ein Januarabend, wie Winter ohne Weihnachten. Dunkel wie die Kathedrale bei Nacht, wenn die Touristen verschwunden und ihre Toten wieder unter sich waren. Dunkel wie der Schachbrettboden, das Chorgestühl mit den erloschenen Lampen, die schwarzen Marmorstatuen von Dichtern und Königen. Dunkel wie ein Grab.

Sie waren dunkel, weil ihnen fehlte, wovon es andernorts so viel gab: Lachen und Scherz, Licht und Gesang.

Sie waren dunkel, weil jemand fehlte.

Es waren Nächte wie diese, die uns daran erinnerten, dass jedes Ding einen Schatten warf. Selbst die Liebe mit ihrem ewigen Antagonisten, dem Tod.

Unsere dunkelsten Nächte gehörten den Trauernden und Liebenden.

Aber nicht nur ihnen.

Denn die Nacht war immer auch ihre Zeit: Die Zeit der Verräter. Der Flüsterer, der Giftmischer, der Ränkeschmiede in dunklen Gasse.

Und so war es ausgerechnet jene dunkle Nacht der Trauernden von Stormglen, da auch die Verräterin zwischen den Toten von Westminster aus den Schatten trat. Damons One-Way-Ticket hatte sie hier ausgespuckt, sein Hang zum Dramatischen schien ungebrochen, aber sie beschwerte sich nicht. Diese Kulisse war nur angemessen.

Ihre Schuhe klackerten über den Marmor, während sie zwischen den Grabmälern der englischen Könige hindurchschritt. Sie machte sich einen Spaß daraus, immer bloß auf die schwarzen Fliesen des Schachbettbodens zu treten. Typisch Kirche, simple Muster, Schwarz und Weiß, jedes in seinem Bereich, strikt voneinander getrennt. Als ob die Realität je so einfach wäre.

Ihr Umhang streifte eine Holzbank, als sie die Poet's Corner verließ und unter dem Sternenhimmel des Chors ins Hauptschiff läuft. Einen Moment war sie versucht, sich auf den Platz der Queen zu setzen, einfach, um zu wissen, wie es sich anfühlte. Bald schon würde sie auch einen Thron haben. Dafür hatte sie gesorgt.

Im Moment schienen die Wächter blind vor Trauer. Selbst die Argusaugen Eleanor Murrays waren verheult nicht mehr ganz so scharf. Sie klammern sich noch immer an den letzten Splitter Hoffnung, an ein paar Tropfen Blut, die sie nie bekommen werden.

Die Frau spürte keine Reue, keine Trauer, aber da war ein hohles Gefühl in ihrem Magen, das nicht verschwinden wollte, gleich wie viel sie aß. Irgendwo hatte sie mal gelesen, dass es keinen Hass ohne Liebe geben konnte und sie ertappte sich bei den Gedanken an Demetras Gesicht, ihre zerbrechliche Gestalt auf diesem steinernen Tisch, farb- und leblos wie eine Blüte im Winter. Es hätte sich wie ein Triumph anfühlen müssen und das tat es, aber da waren auch Melancholie, Erschöpfung, Leere. Menschen waren eben kein Schachbrett. Die wirklich großen Dinge im Leben riefen immer ambivalente Gefühle hervor, pures Glück war ebenso selten wie pure Verzweiflung, nur Narren und die Werbung sagten etwas anderes.

Vielleicht würde sie sich besser fühlen, wenn die Sache beendet war.

„Überlasse Eleanor mir", hatte Damon gesagt, „Ich kenne ihre Schwächen. Noch bevor der Frühling kommt, wird sie mich um Gnade anflehen. Aber dafür brauche ich meinen Sohn. Bring ihn mir. Und sein Mädchen. Ich will sie beide.

Sie sah wenig Sinn darin, die Kinder mithineinzuziehen, aber gut.

Gehorche. Diene. Siege. Fürs erste blieb es ihr Mantra.

Fürs erste.

Sie setzte die Kapuze auf.

Und dann verschwand sie wie sie gekommen war; ein Schatten unter Schatten.

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