Die Schwestern von Stormglen (1)

1.1K 98 42
                                    

Ich bringe gerade so ein Wow hervor.

Das Haus, wobei Haus die Untertreibung des Jahrhunderts ist, der Kasten sieht aus wie ein kleines Schloss, ragt vor uns in die Nacht. Es hat wenig Ähnlichkeit mit Deutschlands Burgen, erinnert eher an ein englisches Herrenhaus. Die Art von Herrenhaus, in dem Sonntagabend-Romantikfilme gedreht werden: Grauer Stein, riesige Bleiglasfenster im Tudor-Stil, mehr Schornsteine und Ziertürmchen, als ich zählen kann und eine efeubewachsene Fassade. Halb erwarte ich schon, dass die Tür aufgeht und ein Butler namens James unser Gepäck entgegennimmt (Mylady, darf ich sie zum Dinner in den grünen Salon geleiten?).

„Macht Eindruck, nicht?", sagt Mo und ich kann den Stolz in seiner Stimme hören, „Stormglen Manor, Hauptsitz der Wächter. Mein Zuhause." Er zwinkert. „Vielleicht bald ja auch deins."

„Da drin wohnst du?"

„Die meiste Zeit. Ich bin im Kolleg aufgewachsen."

Mein Blick wandert über die dunklen Fenster und weiter zum Wald. Er umgibt das Haus halbkreisförmig. Auf einer Seite schließt er direkt an eine Gruppe alter viktorianischer Gewächshäuser an. In der Dunkelheit sind nur ihre Umrisse zu erkennen, aber sie scheinen durch einen schmalen Gang mit dem Herrenhaus verbunden. Die einzige waldfreie Stelle sind das Haus und seine weitläufigen Rasenfläche, die nach Westen hin in eine felsige Bucht mit Sandstrand übergeht. Jetzt verstehe ich auch den Namen des Anwesens. Sormglen Manor. Wie passend für ein Haus, eingeschlossen zwischen Wald und Meer.

„Was ist das hier für ein Ort?", frage ich Mo, „Eine Insel?"

Mo wiegt den Kopf hin und her. „Jein. Es heißt Fabelreich. Und ja, in gewisser Hinsicht ist es eine Insel. Soweit wir wissen, ist das Land zu allen Seiten vom Meer umgeben. Aber du darfst es dir nicht vorstellen, wie Mallorca oder so. Es ist... ein magisches Mallorca. Flächenmäßig klein, aber trotzdem mit ganz unterschiedlichen Klimazonen. Und wir haben noch lange nicht alles erforscht."

„Dann sind wir hier in einer Art Parallelwelt zur Erde. Wie auf einer anderen Dimension?"

„So ungefähr. Dieses Land wurde durch Magie geschaffen. Es kann nur durch die Portale der Wächter erreicht werden."

„Das erklärt, warum euch bisher niemand gefunden hat."

„Und das soll auch so bleiben." Mo hebt eine mahnende Braue. „Erste Regel der Wächter: Erzähle niemandem, niemandem, dass Fabelreich existiert. Wir Menschen können schon auf der Erde nicht in Frieden leben. Wenn die Öffentlichkeit erfährt, dass es irgendwo da draußen ein Land voller Fabelwesen gibt..."

Dann gibt's Krieg. Es braucht keine besondere Fantasie, um sich die Auswirkungen so einer Entdeckung vorzustellen: Forscherteams aus allen Ländern rücken an. Politiker diskutieren über den Einsatz von Drachen als Kriegswaffen. Schaulustige fallen in Scharen über Fabelreich her. Irgendein Amerikaner würde vermutlich einen Themenpark aus der Insel machen und Eintritt verlangen (Reitstunden auf einem Einhorn!). Dann, wenn die anfängliche Euphorie verflogen wäre, wenn auf der Welt wieder eine Katastrophe hereinbricht, Seuchen oder Missernten, wenn sie Schuldige suchen...

Dann würde die Hexenjagd beginnen.

„Lass uns reingehen", sagt Mo und steckt das Pflanzenbuch, das er als Portal benutzt hat, zurück in seine Tasche. „Demetra wartet in ihrem Studierzimmer."

Zusammen überqueren wir die Rasenfläche in Richtung des Anwesens. Beim Näherkommen höre ich Stimmen und vereinzeltes Gelächter aus den Gewächshäusern. Auch im Herrenhaus brennt in einigen Fenstern noch Licht.

„Wenn du sagst, das sei euer Hauptsitz-"

„-unser Hauptsitz", korrigiert mich Mo.

„Na, schön, unser Hauptsitz. Leben dann alle Wächter hier?"

FabelblutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt