Fabelnacht (2)

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Mein Fuß zuckt zurück. Es dauert, bis ich begreife, dass ich geradewegs in einen Haufen Scherben getreten bin. Blutrote Scherben. Und noch ein wenig länger dauert es, bis ich sehe, woher sie stammen. Neben mir liegt ein frisches Grab. Die Erde ist zu einem Hügel aufgetürmt, dunkel und weich. Eine Friedhofsvase steckt in seiner Mitte, aber sie ist leer. Die Blumen, weiße Rosen und Lilien, sind in Fetzen über den Kiesweg verteilt. Das Totenlicht aus rotem Glas wurde mitsamt der Kerze zerschmettert, als hätte jemand von oben mit einem Hammer darauf eingeschlagen. Und dahinter, quer über das Holzkreuz mit dem Namen des Toten, zieht sich der tiefe Abdruck von Krallen.

Ganz von selbst stolpere ich noch weiter zurück. Was zur Hölle war das? Ein Hund? Mein Atem steigt vom Bauch in die Brust, wird schneller. Hektischer. Ok, ich habe eindeutig zu viele Horrorfilme gesehen. Aber das hier, das ist Grabschändung. Eine Straftat. Hunde dürfen auf Friedhöfen nicht frei herumlaufen. Und schwer vorstellbar, dass jemand einfach zuschaut, wie sein Haustier ein Grab verwüstet, oder? Gibt es in Schottland noch Leichenräuber?

Ein Schauer läuft mir über den Rücken.

Vorsichtig knie ich mich hin und taste zwischen den Scherben der Laterne herum. Das Kerzenwachs ist warm und weich zwischen meinen Fingern. Jemand war hier. Und es ist noch nicht lange her. Ich drehe mich um, suche mit den Augen die Gräberreihen ab. Gegenüber des Kieswegs ragt eine mächtige Eibe in den Himmel, übervoll mit roten Beeren behangen. Der Rest des Friedhof ist ein einziges verschwommenes Wirrwarr aus Grau und Schwarz. Nur die Grablichter heben sich ab, kleine rote Stecknadelköpfe in der Finsternis, aber auch sie sind unauffällig.

Bis sich zwei davon plötzlich bewegen.

Ich blinzle. Vielleicht bin ich einfach nur übermüdet. Vier Nächte in einem Zwölfbett-Zimmer müssen irgendwann Spuren interlassen. Aber die Lichter kommen näher. Und dann erkenne ich, was sie in Wahrheit sind...

Augen.

Zwei glühende, rote Kreise, mit schwarzen Schlitzen als Pupillen. Der Körper, der sich dahinter aus der Dunkelheit schält, gehört definitiv keinem Hund. Erst als das Vieh auf den Kiesweg und in den Kegel der Laternen tritt, sehe ich es zur Gänze. Den muskulösen Körper unter glattem, schwarzem Fell. Die Pfoten, die in fingerbreiten Klauen enden. Die Reißzähne im gebleckten Maul. Ein Puma, Halloween Edition.

Ich habe aufgehört zu atmen. Für einen Moment schauen wir uns an, die Monsterkatze und ich. Dann höre ich ein Grollen wie von heraufziehendem Donner. Lautlos senkt das Vieh die Vorderläufe, stäubt den Schwanz. Ich habe genug Katzen bei der Mäusejagt beobachtet, um zu wissen, was das bedeutet: diesmal bin ich die Maus.

Eigentlich will ich rennen, aber meine Füße sind Betonklötze. Ich kann gerade noch die Arme heben und mein Gesicht abschirmen, als sie springt. Ich spüre Luft, sehe ein Aufblitzen von brennendem Rot. Dann trifft mich eine Pfote auf der Brust. Die Wucht schleudert mich nach hinten und ich pralle gegen einen Grabstein. In meiner Schulter explodiert Schmerz, aber ich fühle ihn nur dumpf, betäubt von einer Überdosis Adrenalin.

Die Katze ist jetzt über mir. Mit den Hinterläufen drückt sie meine Beine in die Erde, die Vorderpfoten nageln mich förmlich an den Grabstein. In meinen Ohren pocht es. Unsere Gesichter sind sich so nah, dass ich ihren heißen Atem spüre. Sie schnüffelt. Kurz zuckt mir ein hoffnungsvoller Gedanke durch den Kopf: Vielleicht bin ich ja nicht lecker genug? Aber dann verengen sich ihre Pupillen, bis sie im Rot fast verschwinden. Wieder das Knurren. Ich schließe die Augen, spüre wie sie ihr Maul aufreißt, mein Gesicht verzieht sich-

„Hallo, Mieze."

Da ist jemand.

Mit einem Ruck wird die Katze von mir geschleudert. Ohne den Druck auf meinen Schultern sacke ich den Stein hinab wie ein nasser Sack. Ich schnappe nach Luft. Wellen von Schmerz rauschen durch meinen Körper, erst jetzt fühle ich ihn wirklich. Ein scharfes, pulsierendes Stechen.

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