Dunkle Tunnel (2)

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Als Mo und ich auf die Straße treten hat es zu schneien begonnen. Dicke Flocken fallen leise aus der Dunkelheit über hell erleuchtete Schaufenster oder wirbeln im Scheinwerferlicht der Busse. Zwar wird die Weihnachtsbeleuchtung mancherorts schon wieder abgenommen, aber über den Straßen spannen sich immer noch lange Schnüre, von denen elektrischen Sterne hängen und sanft golden in den Nachthimmel blinken. Ihr Anblick, gepaart mit dem Karamell-Geschmack in meinem Mund, dem Silent Night eines Straßenmusikers und den glücklich, entspannt wirkenden Menschen um uns herum, löst ein warmes Kribbeln in meinem Magen aus. Es ist dieses nostalgische Weihnachtskribbeln. Ein emotionaler Flashback in die Kindheit, der sich aus heilen, naiven Erinnerungen speist und sich so gern in Musik oder Gerüchen festsetzt. 

Kurz habe ich das überwältigende Gefühl, Mo meine Hand zu geben. Ich habe mich ihn sogar schon zugedreht, als ich seinen mürrischen Blick auffange.

Okay, zurück in die Realität. Ist wohl nicht die Zeit für Weihnachtsstimmung.

Mo wechselt den ganzen Weg zur U-Bahn kein Wort mit mir. Am Piccadilly Circus nehmen wir die blaue Linie, aber auf meine Frage, wohin wir fahren, kommt von Mo nur ein gegrummeltes „Westen."

Erst als wir uns in der Bahn gegenübersitzen, verschränkt er die Arme und lehnt sich zurück, wie als stelle er sich auf ein längeres Gespräch ein. „Na, dann. Schieß los."

Ich hole Luft. „Du hast Recht. Eleanor hat mich geschickt."

„Und ich wollte mich gerade bei dir entschuldigen..."

„Das könntest du ruhig immer noch!", fauche ich und werfe ihm einen funkelnden Blick zu. „Weißt du, was ich für eine Angst um dich hatte?"

„Ich musste einfach mal weg. Verstehst du das nicht? Lina, ich hab gerade erfahren, dass meine Eltern verurteilte Kriminelle sind. Sorry, aber wenn dein Vater auf einmal von einem No-Name zu einem gefährlichen Magier und narzisstischem Arschloch mutiert, stecke selbst ich das nicht so locker weg!"

„Trotzdem haben wir uns Sorgen gemacht!"

„Vollkommen unbegründet, wie du siehst."

„Du bist in Gefahr."

„Ich kann schon auf mich aufpassen. Und selbst wenn nicht. Das letzte was ich will, ist von Eleanor bemuttert werden."

„Es tut ihr leid. Wirklich. Sie sitzt im Kolleg und zerfleischt sich mit Selbstvorwürfen."

Mo schnaubt. „Soll ich jetzt Mitleid haben?"

„Mortimer!"

„Was? Für Skrupel ist es ein bisschen spät, findest du nicht? Sie hat mich fast sechzehn Jahre lang belogen!"

„Was ein Fehler war", wende ich rasch ein. „Keine Frage. Aber versuch doch wenigstens auch ihre Seite zu sehen. Eleanor kennt Damon. Sie hatte einfach Angst um dich."

„Das gibt ihr noch lang nicht das Recht, meiner Mutter ihr Kind wegzunehmen!"

„Jetzt halt mal die Luft an!" Bei meinen Worten drehen sich ein paar Fahrgäste mit irritiertem Gesichtsausdruck zu uns um. „Deine ach so unschuldige Mutter hat sich lieber mit ihrem Lover einsperren lassen, als mit dir in die Menschenwelt zu gehen. So groß kann die Liebe nicht gewesen sein." Als ich Mos Gesicht sehe, hätte ich mir am liebsten auf die Zunge gebissen. „Sorry. Habs nicht so gemeint", murmele ich.

Mo schüttelt den Kopf, die Augen auf den Boden gerichtet. „Warum verteidigst du sie?"

„Weil sie es selbst nicht kann. Ich finde, Eleanor hat ein Recht darauf, sich zu erklären. Aber du hörst ihr ja nicht mal zu."

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