Die Prophetin (2)

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Beim Anblick, wie die beiden in der Dunkelheit davonlaufen, werden meine Handflächen schwitzig.

Ich schaue hoch zu den drei Gestalten auf ihren Olivenholzthronen, unsicher, wer mich verhören wird. Was wollen die von mir? Ich hätte verstanden, wenn sie Mo befragen wollten, aber mich? Ich hab doch weniger Ahnung vom Kolleg als Nicolas.

Asteria spricht zuerst. „Sie ist es", haucht sie und ihre Stimme klingt beinahe ehrfürchtig. „Soteria." Aus irgendeinem Grund macht mir ihr Ton Angst. Mehr als jede Drohung, mehr als all die Offenbarungen der letzten Tage. Jemand, der so alt ist wie sie, sollte nicht ehrfürchtig klingen, wenn er mich sieht. Etwas daran ist falsch. Ich spüre es, bis tief in meine Knochen.

Zum ersten Mal kommt Leben in die beiden Gestalten neben ihr. Der Zentauer dreht ihr mit gerunzelter Stirn den Kopf zu und der Phönix richtet sich in seinem Sitz auf, die Hände über die Armlehnen gespreizt. „Bist du sicher?", fragt er.

„Die Vorsehung irrt nie", flüstert Asteria, als wäre, das, was sie da sagt, irgendwie geheim, „Ich habe gesehen, wie unser Volk sie bei diesem Namen ruft. Soteria. Wieder und wieder."

„Aber sie ist eine Spätberufene", wendet der Phönix ein, „Sie hat keine Erfahrung, weder mit ihren Talenten, noch mit Fabelreich."

„Wahrscheinlich ist es genau das." Asterias Augen leuchten. „Nur wer nicht selbst in einem Sumpf steckt, kann andere herausziehen. Sie sieht die Dinge von außen. Sie macht sie neu. Die Saat, die im Schatten aufgeht, bringt leuchtende Frucht. Ein Licht, das die Gefangenen befreit, die Zerstreuten zusammenführt und die Völker erlöst. Es wird wahr. Endlich wird es wahr."

„Was wird wahr?" Mein Blick wandert vom einen zum anderen. Ich verstehe nur Bahnhof. Nein, nichtmal das. „Können Sie mir mal sagen, was Sie eigentlich von mir wollen?"

„Alles zu seiner Zeit", sagt Asteria. „Wenn deine Stunde kommt, wirst du wissen, was zu tun ist. Dein Schicksal und das meines Volkes sind eng miteinander verwoben. An jenen Tag wirst du mehr Verantwortung tragen, als du jemals wolltest. Aber wann das ist und warum ausgerechnet du, weiß ich nicht. "

„Ah." Ist das ihr Ernst? „Na, super. Sie schauen in meine Zukunft, teasern ein bisschen was geheimnisvoll an und das wars dann?"

„Ich sehe nicht deine ganze Zukunft", sagt Asteria ruhig. „Aber selbst wenn ich es könnte, würdest du es denn wissen wollen? Dein Leben, deinen Beruf, deine Freunde? Deinen Tod?"

Ich beiße mir auf die Lippen.

Asteria nickt und lächelt milde. „Wissen kann eine große Bürde sein, genau wie die Wahrheit. Du bist hier, weil es Dinge gibt, die ich dir sagen muss. Ich glaube, die Vorsehung erwartet es von mir. Eine Lampe für den Weg, der vor dir liegt. Aber kein Flutlicht. Verstanden?" Ich nicke und Asteria holt Luft. Ihre Stimme hat sich verändert, ist plötzlich glockenhell. „Zweimal wirst du in größter Not um Hilfe bitten. Zweimal wird ein anderer kommen und ein Opfer an deiner Stelle bringen. Die Schuld will dich lähmen. Lass es nicht zu. Ab jetzt musst du die Starke sein." Asteria zögert. „Mortimer braucht dich. Bald mehr als je zuvor. Die Frau, dir ihr sucht...sie wird ihm weh tun. Suche ihn, auch wenn er dich wegstößt. Nicht jedes Monster ist ein Feind. Nicht jeder Feind ist ein Monster. Und wenn dir je die Unterscheidung schwer fällt, dann denke daran: Der Held vergisst sich selbst, das Monster alle anderen."

Einen Moment bin ich verstummt, wie erschlagen von ihren Worten. Dann packt mich plötzlich die Wut. Was denken die eigentlich, wer sie sind, diese uralten Wesen mit ihrer überlegenen Moral? Uns erzählen sie was von Monstern und selbst?

„Was für Monster seid ihr Rebellen denn dann?", platze ich heraus, „Ihr denkt doch auch nur an euch! Es ist euch egal, ob Wächter verletzt werden oder sterben, wenn ihr Stormglen Manor angreift! Und belügt mich nicht. Ich war dabei."

„Niemand behauptet, dass wir Helden sind", sagt Asteria kühl, ihre Stimme jetzt wieder normal. „Oder selbstlos. Oder gut. Aber immerhin halten wir den Schaden möglichst gering. Kein einziger Wächter ist durch uns getötet oder schwer verletzt worden. Wir suchen den Krieg nicht."

„Sondern? Warum greift ihr uns an? Zur Einschüchterung? Wollt ihr uns zeigen, dass wir euch ernst nehmen müssen?"

„Bücher." Asteria schmunzelt  beim Anblick meiner verwirrten Miene. „Eure Bücher werden gut bewacht. Jeden Einbrecher hätten die Wächter sofort bemerkt. Aber wenn wir eine Ablenkung schaffen, einen Angriff zum Beispiel. Dann können unsere Verbündeten im Kolleg ungesehen ein paar stehlen."

„All dieser Aufwand...für Bücher?" Ich weiß nicht, ob ich hier gerade verarscht werde. "Die müssen ja sehr wertvoll sein."

„Du denkst, das ist, was wir wollen? Geld? Macht? Die Herrschaft über Fabelreich? Einen Sturz des Kollegs?" Asteria lacht auf. „Ihr habt euch nie die Mühe gemacht, uns zu fragen. Wir waren der Feind, von Anfang an. Dabei ist die Wahrheit so simpel: Wir wollen einfach nur nach Hause." Bei ihren letzten Worten hat Asterias Stimme einen sehnsüchtigen Klang angenommen.

Ich hebe eine Braue. „Könnt ihr euch an die Menschenwelt überhaupt noch erinnern? Wie lange seid ihr jetzt schon hier?" Es müssen hunderte von Jahren sein!"

„In Nächten wie diesen ist es besonders schlimm." Ich sehe zu dem Zentauren hinüber, der gesprochen hat. Er sieht mich nicht an, ganz in Gedanken versunken, aber seine Stimme hat ein warmes Timbre, das mir durch und durch geht. „Der Wald hat uns viel geschenkt, aber die echte Welt ist trotzdem anders. So ähnlich und doch...der Mond, silbern auf dem Sand, auf den Oliven. Weiß, auf den Kronen der Wellen, den Säulen der Tempel. Ich habe Griechenland seit achthundert Jahren nicht gesehen. Aber die Erinnerung blutet noch immer so frisch wie am ersten Tag."

Asteria nickt, langsam und ernst. „Was nützt einem die Ewigkeit, wenn alles, was man will, das Gestern ist?", flüstert sie.

Ich denke an das Haus meiner Großeltern. An meinen Vater und unsere neue Hasenkistenwohnung. „Ich glaub, ich weiß, was ihr meint", murmele ich, „Zumindest ein bisschen. Aber warum die Bücher?" 

Dann fügen sich in meinem Kopf plötzlich die Puzzleteile zusammen.

 „Oh." 

Die Rebellen hatten nicht irgendwelche Bücher gesucht. Es gab nur eine Sache im Besitz des Kollegs, die für sie wertvoll war. Der einzige Weg nach draußen. Nach Hause. „Portalbücher."

Asteria nickt. „Über die Jahre konnten wir ein paar erbeuten. Aber wir sind keine Wächter. Vom Kolleg getrennt, verlieren sie rasch ihre Magie. Manchmal schaffen wir es, ein Fabelwesen rauszubringen. Oft auch gar keins. Wir hatten die Hoffnung schon fast aufgegeben. Bis Nicolas kam und uns einen anderen Weg zeigte. Einen besseren. Seitdem haben wir ein neues Ziel." Asteria lächelt und ihre spitzen Zähne blitzen Im Mondlicht. Kaum zu glauben, dass sie nur Pflanzen isst. „Wem viel gegeben ist, von dem wird viel erwartet", sagt sie. "Wir setzen große Hoffnungen auf dich. Noch ehe der erste Frühlingsvollmond am Himmel steht, wird die ganze magische Welt deinen Namen kennen, Lina von Stormglen. Soteria."

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