Zwischenspiel: Das Abschiedsglas

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Seit Eleanor denken kann, ist der Schlaf ihr Feind gewesen.

Schon als Teenager hatte sie nächtelang wachgelegen, mit brennenden Augen und bis in die Knochen schmerzender Müdigkeit, weil die Gedanken in ihrem Kopf Achterbahn gefahren waren. Lange hatte sie es als normal abgetan. Vielleicht war das ja der Preis für einen Geist wie ihren? Woher wollte ihr Kopf auch wissen, dass er nach zweiundzwanzig Uhr plötzlich Ruhe geben soll?

Erst viel später, als es so schlimm wurde, dass allein der Gedanke an eine weitere Nacht ohne Schlaf ihr Herz rasen ließ, hatte sie sich Hilfe geholt. Sie erinnert sich noch heute an die Worte des Arztes. Wenn die Medikamente nichts nützen, könnten wir es mit Entspannungsmethoden versuchen. AtemtechnikenAber machen wir uns nichts vor. Ihr Problem liegt tiefer.

Die Atemtechniken haben geholfen (das tägliche Glas Whiskey zur Entspannung, das sie sich selbst verschieben hat, auch). Trotzdem blieb es ein Kampf und nach wie vor verbringt sie durchwachte Nächte in ihrem Lesesessel am Feuer, die Augen auf die Spinnenbeinzeiger der Standuhr gerichtet, die quälend langsam dem erlösenden Morgengrauen entgegen kriechen.

Auch heute ist so eine Nacht.

Wissen Sie, hatte der Arzt gesagt, Wir können nur einschlafen, indem wir unser Bewusstsein loslassen. Die Kontrolle abgeben und vertrauen. In dieser Hinsicht ist Einschlafen ein bisschen wie Sterben.

Bei der Erinnerung an seine Worte zieht sich ein feines Lächeln über Eleanors Lippen. Sie dreht das Whiskeyglas zwischen den Fingern, sieht zu wie die bernsteinfarbene Flüssigkeit zittrige Wellen wirft. Wie viele davon hat sie über die Jahre getrunken, ohne es wirklich wahrzunehmen? Den Geschmack von Feuer und Torf auf der Zunge, das Brennen, das durch ihre Kehle wandert und sich dann warm in ihren Magen legt. Dazu den Schein des ausgehenden Feuers auf ihren Wangen, die leisen Töne der Schallplatte hinter ihr.

But since it has so ought to be

By a time to rise and a time to fall

Come fill to me the parting glass

Good night and joy be with you all

Ihre Fingerspitzen tippen im Takt auf das Glas. Natürlich sind sie eiskalt. Eleanor hat ihren Körper in den letzten Stunden genau beobachtet. Sie weiß, dass ihr Herz schneller schlägt und ihre Pupillen größer sind als sonst. Dass ihre Hand, mit der sie das Glas hält, zittert. Sie weiß auch, dass Tränen an irgendeinem Punkt vermutlich unvermeidbar sind.  Wenn die innere psychische Anspannung zu groß wird, wenn sie innerlich zu zerspringen droht, weiß der Körper keinen anderen Weg, um sie zu retten. Es wird demütigend sein, vor dem ganzen Publikum. Vielleicht kann sie schon ein wenig vorbeugen?

Als die Schallplatte ihr Ende erreicht, legt sie eine neue auf. Noch bevor sie wieder in den Sessel gesunken ist erfüllen die Klänge von Samuel Barbers Adagio for Strings den Raum. Langgezogener Töne voller Sehnsucht. Sie schließt die Augen, lässt sich von der Musik durchdringen, spürt das leise Beben in der Brust. Das Stück ist wie eine Faust um ihr Herz. Mit jedem Takt drückt sie fester zu, presst alles aus ihr heraus, Note um Note, bis Eleanor Tränen in den Augenwinkeln spürt.

Nur hier. Nur jetzt, denkt sie und lässt sie fallen.

Danach ist es schwer, sich zu sammeln. Zum Glück hat sie nach bald zwanzig Jahren Übung darin, ihr Nervensystem zu beruhigen.

Einatmen...

eins, wie, drei, vier...

Ausatmen...

eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben...

Immer, wenn man die Zeit anhalten will, dann rast sie und so ist es für Eleanor nicht verwunderlich, als sie blinzelnd feststellt, dass der Stundenzeiger schon auf sechs Uhr morgens vorgerückt ist.

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