Gretchenkomplex (2)

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Keine Ahnung, wie ich es angestellt habe, aber irgendwann muss ich tatsächlich noch einmal eingeschlafen sein. Ich erinnere mich vage, von Mo geträumt zu haben, allein in einem Labyrinth aus Tunneln mit einem roten Faden in der Hand. Als ich aufwache, weiß ich einen Moment lang nicht, was mich geweckt hat. Im der Zelle ist es genauso klamm und dunkel wie zuvor. Wenn ich wirklich geschlafen habe, sicher nicht mehr als eine Stunde.

Dann höre ich es wieder. Einen langgezogenen Schrei. Wäre mir nicht eh schon so kalt, spätestens jetzt hätte ich eine Gänsehaut. Und es bleibt nicht bei dem einen. Der Schrei wiederholt sich, schraubt sich höher und höher, hallt von den Gemäuern der Festung wieder, schrill und durchdringend.

Ich drehe den Kopf zu Eleanor. Sie ist wach. Mit offenen Augen starrt sie zur Decke und bewegt die Lippen, als würde sie stimmlos gegen etwas ansprechen.

„Was ist das?", flüstere ich, plötzlich sehr darauf bedacht, dass mich niemand hört Eigentlich kenne ich die Antwort bereits.

Eleanor unterbricht ihr Gemurmel und sieht mich an. „Ich bin nicht die einzige, die sich Damon zum Feind gemacht hat", sagt sie nur.

„Hat", ich schlucke, „Hat er das mit dir auch schon...?"

„Schlaf weiter. Versuche, an etwas anderes zu denken."

Etwas anderes.

Es ist dieser letzte Satz, der meinem nervösen, schlafmangelgeplagten Hirn den Rest gibt. Wie soll ich denn an etwas anderes denken? In einer eisigen Zelle, irgendwo am Arsch der Welt, während neben uns jemand schreit? Und wir die nächsten sind? Ich erlaube mir nicht, den Gedanken weiterzuspinnen. Wahrscheinlich würde mein Magen dann endgültig streiken. Rasch verdränge ich die Bilder von Streckbänken und verdrehten Gliedmaßen und verfluche gleichzeitig alle Historienfilme, die ich kenne. Aber es ist zu spät. Ein verbotener Gedanke hat andere angestoßen und jetzt, wo der Damm einmal gebrochen ist, kann ich die Flut nicht mehr aufhalten.

Klingt absurd, aber ich habe wirklich nie einen Gedanken daran verschwendet, dass ich mal sterben könnte. Wie mein Vater das wohl aufnehmen würde? Gäbe es überhaupt eine Leiche, die sie beerdigen könnten? Ich sehe die Schlagzeile schon vor mir, begleitet von einem Schwarzweißbild mit meinem lachenden Gesicht: Lina (15), ermordet von narzisstischem Magier.

Wie werden meine Mitschüler regieren, wenn ich nicht mehr auftauche? Wahrscheinlich würden sie an meiner Schule psychologische Beratung anbieten, die keiner in Anspruch nimmt. Einige wären vielleicht betroffen, würden zumindest so tun, allein schon für das Drama, aber machen wir uns keine Illusionen: nach ein paar Wochen wäre ich vergessen.

Wie lange dauert es überhaupt, bis sie anfangen, mich zu vermissen? Bis mein Vater merkt, dass etwas nicht stimmt?

Mit einem Stich im Magen wird mir bewusst, dass ich sein Gesicht womöglich nie wieder sehe. Ich versuche, ihn mir vorzustellen, und in meinem Gedanken steht er in meinem neuen Schrebergarten, zwischen den Beeten, die ich nie bepflanzen werde, mit hängenden Schultern, und gibt den Schlüssel an jemand anderen weiter.

Es ist dieses Bild, klar und scharf, mit dem ich es begreife:

Ich mag mein Leben. Mein gewöhnliches, langweiliges, durchschnittliches Leben.

Und ich will es zurück.

„Lina?" Wie aus der Ferne höre ich Eleanors besorgte Stimme. „Was ist los?"

Eine Träne rollt mir über die Wange. Dann zwei, drei, fünf. Auf einmal bin ich nicht mehr fünfzehn, sondern jünger, viel jünger. „Mein Vater hat keine Ahnung. Er wird nie wissen, was passiert ist." Die Stimme muss mir gehören, aber sie klingt fremd in meinen Ohren, hoch und zittrig. „Er hat mir einen Garten geschenkt." Ganz automatisch ziehe ich die Knie vor die Brust, mache mich klein wie ein Baby. „Ich will nicht sterben."

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