Fabelnacht (1)

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Okay, ich geb's zu.

Manchmal tue ich Dinge, bei denen vernünftige Menschen schon vorher wissen, dass sie ein Fehler sind. Unüberlegte Dinge. Dumme Dinge, nüchtern betrachtet.  

Aber hey: wir sind auf Klassenfahrt. Das ist quasi der gesellschaftlich legitimierte Anlass etwas Dummes zu tun. Und wie soll ich bei dieser Kulisse bitte widerstehen?

Edinburgh, Hauptstadt von Schottland: mittelalterlich, mystisch, moody. Eine Stadt, die Geschichte geradezu atmet. Voller Gothik und Dark Academia Vibes. Und dann noch im Herbst. An Halloween! Mein kleines Nerdherz hat bei der Aussicht auf verregnete Ferien zwischen Straßen und Gebäuden wie aus Harry Potter-Sets einen Hüpfer gemacht.

Dem Rest der Klasse ging's wohl ähnlich.  Allerdings lag es bei ihnen eher am Schock. Die meisten meiner Mitschüler haben eine Klassenfahrt nach Schottland (nicht ganz zu unrecht!) als Strafe für unser schlechtes Sozialverhalten gedeutet. Britische Gesichte ist in meiner Altersgruppe eher ein Nischeninteresse. Die allgemeine, extrovertierte Vorstellung einer zehnten Klasse von Spaß findet sich nicht zwischen mittelalterlichen Steinen, sondern eher am Strand Lorette de Mars. Auf dem Grund eines Sangria-Eimers in Lorette de Mar, um präzise zu sein.

Überflüssig zu erwähnen, wie die Stimmung gerade ist. Nur so viel: Sie hat sich dem schottischen Wetter angeglichen.

Seit Tagen schleppen fünf Lehrer eine unmotivierte Gruppe Teenager durch stetigen Nieselregen von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten. Ab und zu hält jemand ein Pflichtreferat, aber ich bekomme trotzdem nicht mehr von der Stadt zu sehen als gehetzte Bruchstücke. Abends liege ich im Zwölfbett-Zimmer unseres Hostels (der Albtraum jedes Introvertierten) und höre den Bass meiner Nachbarn durch die Ohrstöpsel hämmern wie ein irritierender zweiter Herzschlag.

So hab ich mir meine Studienfahrt wirklich nicht vorgestellt. Ich hatte Pläne: Edinburgh Castle besuchen, von dem sie sagen, es sei das Vorbild für Schloss Hogwarts. In den Botanischen Garten gehen und die berühmten viktorianischen Gewächshäuser sehen. Vielleicht sogar ein, zwei Bilder für Instagram machen, bevor ich mich nachts durch die Gassen der Altstadt geschlichen hätte, auf der Suche nach den Geistern, die hier angeblich spuken. Natürlich glaube ich nicht an Geister. Aber ich mag die Idee dahinter, das Schaudern einer guten Gruselgeschichte. Die naive,  aber schöne Illusion, es könnte noch mehr in der Welt geben als das, was wir sehen. Jeder Fantasy Fan hat in seinem Kopf Raum für das Unbekannte, vielleicht sogar eine gewisse Sehnsucht danach.  

Das erklärt wahrscheinlich, wie ich nachts allein auf diesem Friedhof landen konnte.

„Wer traut sich?" Tanja lehnt mit verschränkten Armen an der Mauer gegenüber, ihr Blick mindestens so lauernd wie ihre Stimmlage. „Hanna?"

Die andere tippt sich an die Stirn. „Spinnst du? Geh doch selbst, Großmaul! Ist schließlich deine Schuld, dass wir hier sind."

„Ich hab ja gleich gesagt, dass man in Großbritannien erst mit achtzehn in einen Pub kommt", sage ich, „Wenn ihr mir mal zugehört hättet..."

Eigentlich sind meine Worte nur gemurmelt, aber Tanja fährt sofort zu mir herum, als hätte ich sie persönlich angeschrien: „Was willst du denn jetzt? Sei dankbar, dass wir dich überhaupt mitgenommen haben. Hättest ja bei deinen Büchern bleiben können."

Ich öffne den Mund, die spitze Bemerkung klopft schon an, aber dann presse ich doch noch rechtzeitig  die Lippen zusammen. Ja. Eigentlich müsste ich dankbar sein. Es war nett von den beiden, als sie mich gefragt haben, ob ich nicht mit auf ihre nächtliche Pubtour kommen will. Früher hat mich immer Elena zu sowas mitgeschleppt, aber die liegt ja jetzt in Neuseeland am Strand. Zugegeben, ich hatte heute (und eigentlich immer) gar keine Lust auf Party, aber was tut man nicht alles für ein bisschen Abenteuer. Ich dachte, wenn die zwei irgendwann einsehen, dass sie in die Pubs eh nicht reinkommen, machen wir vielleicht was anderes. Die Stadt erkunden zum Beispiel. Eine Gespenstertour, nachts an Halloween.

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