Wo Schatten, da auch Licht (2)

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Der Nachmittag ist träge. Obwohl Herbst ist, hängt heute noch ein Rest Sommer über der Stadt. Es riecht nach warmem Tomatengrün und Zigarettenqualm, der vom Balkon unter uns heraufzieht. Die Blätter meiner Pflanzen in Tontöpfen um mich herum wirken in der Sonne schlaff und kraftlos.
Ähnlich fühlt sich auch mein Gehirn an, als ich zum zehnten Mal den ersten Satz der neuen, deepen Heldengeschichte für meine Deutschlehrerin lösche. Ich kann es einfach nicht. Etwas fehlt, es ist nicht rund. Eigentlich wollte ich mich ablenken, aber immer wieder schweifen meine Gedanken nach Fabelreich.

Nach meinem Auftritt im Kollegium bin ich ohne Zögern nach Hause gereist. Eigentlich wäre meine Übungszeit noch nicht beendet, aber das hat niemanden gekümmert. Mich am wenigsten. Ich will Fabelreich, das wird mir immer klarer, während ich auf die schmutzigen Häuserblocks um mich herum starre. Aber dieses Kollegium, das will ich nicht. Sollen sie ihre blöden Schatten doch behalten. Mit Eleanor rede ich jedenfalls kein Wort mehr. Selbst jetzt, Stunden später, kann ich die Wut immer noch spüren. Was bildet sich diese Frau ein, meine Gefühle zu bewerten? Ich bin vielleicht nicht die Selbstdisziplin in Person, vor allem nicht, wenn es an die Mathe Hausaufgaben geht, aber meine Impulse habe ich unter Kontrolle. Die tut ja wirklich so, als könnte ich jeden Moment Amok laufen, nur weil meine Mutter ausgezogen ist.

Ich reiße den Blick vom Laptop Bildschirm los und lasse meinen Blick über die Dächer schweifen. Aber diesmal sehe ich keinen Beton mehr, keine Mietswohnungen. Ich sehe unser altes Haus. Knorrige Apfelbäume, durch die das Licht flirrt. Hochbeete mit Kürbis und Buschbohnen. Es war ein typisches Vorstadthäuschen, komplett von wildem Wein überwuchert. Als Kind habe ich mir immer vorgestellt, dass einst Hexen darin gelebt haben. Mein Zimmer lag direkt unter dem Dach, mit einem Fenster, das von Bäumen umgeben war. Zwischen Pflanzen habe ich mich schon immer zuhause gefühlt. Sie reden wenigstens kein dummes Zeug.

Seufzend kehre ich zu meiner Geschichte zurück. Eigentlich hätten die Worte meiner Lehrerin nicht wehtun dürfen. Wenn ich von meiner Arbeit überzeugt gewesen wäre, dann hätte ich ihre Meinung als eine von vielen werten können. Aber ich bin es nicht. Woher soll man auch das Selbstbewusstsein nehmen, wenn einem niemand sagt, ob man schreiben kann? Es muss ja nicht gleich berufsmäßig sein, aber wenigstens als Talent im Hobby-Bereich. Ich will auch keinen Literaturpreis, einfach nur eine Daseinsberechtigung in dieser Welt. Einen Stempel mit der Aufschrift anerkannter Schreiber oder so.

Ich meine, wenn man ein Talent hat, dann sollte es doch nicht immer so schwer sein. Dann sollte man doch alles schreiben können, nicht nur Kinder-Fantasy. Wahrscheinlich gibt es so ein Dichter-Gen, das man nur hat, wenn man um Mitternacht bei Vollmond zur Sonnenwende beim Schrei einer Eule geboren wird...

Vielleicht werde ich nie seriös schreiben können. Vielleicht sollte ich aufgeben.

Du hast keine Ahnung wie gefährlich du bist. Das Gesicht meiner Deutschlehrerin taucht vor mir auf und seltsamerweise spricht sie mit der Stimme von Eleanor. Wie von selbst ballt sich meine Hand zur Faust. Ich hasse sie, diese klugen, alten Frauen, die meinen, mir die Welt erklären zu müssen. Ich hasse sie alle beide.

Und nicht nur sie. Meine angeblichen Freunde, für die ich zum Abschreiben gut genug, aber ansonsten nur das dritte Rad am Wagen bin. Meine Mutter, die nur an sich und ihre neue Familie denkt. Meinen Vater und Glasschneidestimme. Dieses hässliche Haus ohne Schönheit oder Herz. Und ganz besonders diese verdammte, fade Geschichte, die ich nicht mal mit einem Drachen würzen darf! Ich hebe die Hand, will den Laptop zuschlagen.

Oder zumindest denke ich das.

Die Wut durchzuckt mich wie ein Stromschlag. Ein Rauschen dröhnt durch meine Ohren, mein eigenes kochendes Blut. Ich kann nicht mal mehr die Augen schließen, als das Bündel Schatten wie ein Schwert aus meinen Handflächen schießt.

Ein Blitz, ein Krachen-

Und mein Laptop steht in Flammen.

Was- Ich stolpere zurück.

Mit einem Knirschen zersplittert der Bildschirm in seine Einzelteile.

Ein Schrei löst sich aus meiner Kehle, aber ich höre ihn nicht. In meinem Kopf ist nichts außer dem Pochen von Blut.

„Lina!" Nur am Rande nehme ich wahr, wie sich der Kopf meines Vaters durch die Balkontüre schiebt. Dann reagieren meine Instinkte.

Ich dränge mich an ihm vorbei und renne.

FabelblutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt