Die Eirenen (2)

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Als ich durch den Innenhof hinter der Eingangshalle laufe, kann ich den Frühling in der Luft schon riechen.

In Fabelreich sind die Jahreszeiten etwas verschoben. Frühling ist ab Mitte Februar, dafür beginnt der Herbst aber auch schon im ausgehenden August. Unter meinen Füßen wird das Gras schon hellgrün, hier und da gesprenkelt von gelben Löwenzahnköpfen. Normalerweise bekomme ich allein bei dem Anblick schon gute Laune. Ich habe sogar eine Regenjacke und mehrere Wollpullover in genau diesem Gelbton. Löwenzahn bedeutet für mich Frühling und Frühling bedeutet, dass die Gartensaison startet. In meiner Welt würde es mir längst in den Fingern kribbeln. Sobald der Boden nicht mehr gefroren wäre, würden meine Hände in der Erde wühlen, alte Wurzeln ausreißen und die ersten Samen einsähen.

Dieses Jahr kann ich das alles vergessen. Dieses Jahr bedeutet der Beginn des Frühlings nur, dass der sechste April näher rückt, ohne dass wir der Lösung des Rätsels auch nur ein Stück näher gekommen sind. Dieses Jahr heißt Frühling Ende, nicht Neubeginn. Das Ende einer Ära, das Ende der Wächter. Jede aufgehende Blüte, jedes neue grüne Blatt ist ein fassbares Zeichen meines Versagens, meiner ablaufenden Zeit, wie Sandkörner, die durch ein Stundenglas rinnen.

Und dann ist da noch ein anderer Teil von mir, ein dunkler, egoistischer Teil, dem es fast körperlich wehtut, wenn er an bunte Blumen und Sonnenschein denkt. An die aufkeimenden Frühlingsgefühle überall, die gute Stimmung, das Lachen von Familien oder Pärchen in Eisdielen und Parks. Dieser Teil kann es nicht ertragen, dass die Welt feiert und Spaß hat, als wäre nie etwas geschehen. Als wäre Eleanor nicht gestorben und Mo nicht fortgegangen. Eigentlich dachte ich, wenn wir endlich Gewissheit über ihren Tod hätten, würde es das irgendwie besser machen. Dass ich dann damit abschließen kann. Aber eher im Gegenteil, Die Abwesenheit der beiden ist wie ein ständiges, bleiernes Gewicht in meinem Magen.

Am liebsten hätte ich den Januar zurück. Den Nebel, die Kälte und die Winterstürme. Keiner würde mich fragen, warum ich nicht draußen bin, sondern allein auf dem Sofa im Kollegium, eingewickelt in Eleanors karierte Decken. Vielleicht könnte ich dann sogar weinen.

Ich weiß, dass es auch ungeweinte Tränen und ungefühlte Trauer sind, die mir auf den Magen drücken, aber ich kann es nicht ändern. Nicht solange mein ganzer Körper unter Spannung steht, in ständigem Wechsel zwischen Kampf und Flucht.

Es gibt niemanden mehr, auf den ich mich stützen könnte. Ich bin jetzt die Schulter, an die man sich anlehnt, die Anführerin, in die man sein Vertrauen setzt.

Nie zuvor in meinem Leben habe ich auch nur einen Gedanken daran verschwendet, wie einsam Verantwortung machen kann.

Eigentlich sollte ich jetzt gerade an meiner Rede für heute Abend sitzen. Als Priora werde ich vor dem Triumvirat sprechen müssen und was auch immer ich sage, es sollte besser überzeugend sein. Dummerweise habe ich eine große Schwäche beim Schreiben: Je wichtiger der Anlass, desto schlechter der Text. Meistens ist es mein eigener Anspruch, der mich lähmt, bis ich irgendwann vor der leeren Seite sitze und gar nichts mehr rausbringe. Dann fange ich an zu prokrastinieren. Ich esse (kein Hunger, alles schmeckt wie Pappe), besuche Demetra und jammre ihre die Ohren voll (im Moment keine besonders aktive Zuhörerin) oder gehe spazieren (blöde Blumen). Nichts stellt mich lange zufrieden. Das einzige, was mich wirklich ablenkt, ist mich um irgendwas zu kümmern. Ich muss mir selbst entkommen und das schaffe ich nicht, wenn ich an meinem Schreibtisch hocke und brillante Gedanken aus meinem Kopf ziehen soll.

Roxy und Faustia sitzen unter dem Stamm der großen Linde, die Beine von sich gestreckt und unterhalten sich leise. Als sie mich kommen sehen, winkt mir Roxy schon zu.

„Hi." Ich lasse mich im Schneidersitz neben sie ins Gras sinken.

„Hey, Fremde." Roxy zwinkert. „Schön, dass du mal wieder aus deinen stillen Kämmerchen rausschaust."

„Tut mir leid. Ich wollte schon längst nach euch sehen. Wie geht's euch?"

„Mit unserem neuen Amt?", fragt Roxy und runzelt die Stirn.

„Mit allem."

„Die Zeit hilft", sagt Faustia und wie immer klingt ihre ernste Stimme merkwürdig feierlich. „Der Kontakt zur Erde. Draußen bin ich ihr näher als in diesem Gewächshaus, habe ich das Gefühl. Sie hat sie geliebt, diese ersten Tage im Frühling. Da war sie immer am meisten sie selbst."

Ich schweige, nicke. Es ist klar, wen Faustia mit ihr meint.

Roxy dreht sich zu mir. „Und wie geht es dir?"

„Passt schon. Viel zu tun."

„Was macht die Rede?"

„Frag besser nicht."

„So schlimm?"

„Schlimmer." Ich fahre mir mit den Fingern über die Stirn. „Ich glaub, ich werde es heute Abend richtig versauen."

„Quatsch!" Roxy winkt ab. „Du bist die geborene Rednerin! Frag Faustia. Wir hatten Gänsehaut nach deiner ersten Ansprache im Kapitel."

Faustia sieht mich nachdenklich an und wieder mal habe ich das Gefühl, sie sieht mit ihrer ruhigen Art mehr als andere. „Was ist los, Lina?"

„Nichts" Ich weiche ihrem Blick aus. „Es...die meiste Zeit habe ich einfach keine Ahnung, was ich tue. Ob meine Entscheidungen die richtigen sind. Ich fühle mich so..."

„...allein damit", beendet Faustia den Satz für mich.

Roxys Blick wird sanfter, besorgt. „Du weißt, dass du uns hast? Wir sind für dich da. Wir können dir Dinge abnehmen."

„Ich weiß. Aber das will ich gar nicht. Es tut mir gut, etwas zu tun zu haben. Die Arbeit hilft mir. Sie..."

„Lina." Roxy schaut mir in die Augen. „Du bist nicht die einzige, die jemanden verloren hat."

Auf ihre Worte hin, presst Fautia die Lippen zusammen und lehnt sich mit geschlossen Augen an den Stamm zurück, als würde sie die Berührung erden. In den letzten Wochen habe ich nicht mehr oft daran gedacht, was für ein Schock Demetras Unfall für sie gewesen sein muss. Und Roxy...Ja, Constanze lebt noch. Aber ihr Verrat muss das blaue Kollegium erschüttert haben. Vielleicht mehr noch, als wenn sie gestorben wäre. Auch um Verräter kann man trauern.

„Ich weiß", flüstere ich.

„Trauer macht einsam", murmelt Faustia mit geschlossenen Augen. „Sie flüstert dir ein, dass du die einzige bist, für die es so schlimm ist. Dass niemand dich verstehen kann. Aber sie lügt. Reden kann helfen. Oder gemeinsam Schweigen."

Roxy nickt. „Du musst das alles nicht allein tragen. Wir sind für dich da, immer. Keiner erwartet, dass du perfekte Entscheidungen triffst. Okay?"

Ich hole tief Luft. „Okay. Gut, dass es euch zwei gibt. Echt."

„Na, sieht du", Roxy schnaubt belustigt, „Uns beiden den Job der Alumni zu geben, war also schon mal keine ganz beschissene Entscheidung deinerseits."

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