Dunkle Tunnel (1)

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„The next stop is: Charing Cross. Change here for National Rail Services."

Mit einem Ruck schrecke ich hoch. Die mechanische Frauenstimme verkündet noch eine ganze Reihe anderer Dinge, aber ich höre ihr schon nicht mehr zu. Meine Augen huschen im Scanner Modus die lange braune Linie auf der Karte entlang, die über unseren Köpfen an die Kabinenwand geklebt ist. Charing Cross...Wusste ich doch, dass mir der Name bekannt vorkommt! Die nächste Station ist meine.

Der Zug und gibt sein typisches Bremsgeräusch von sich, ein dreifach gestaffeltes Kreischen von Metall auf Metall, das mir jedes Mal eine Gänsehaut über den Rücken jagt, bevor er ratternd in den Bahnhof einfährt.

Endlich sehen wir wieder mal was anderes als dunkle Tunnel, Stromleitungen und vereinzelte Neonröhren. Vor den Fenstern ziehen weiße Fliesen mit einem roten Kreis, den ein blauer Strich durchbricht, vorbei. Das Zeichen der Londoner U-Bahn. Draußen auf dem Bahnsteig warten schon jede Menge Leute und als sich die Türen mit einem Piepsen öffnen, strömen sie nach drinnen, begleitet von einem Schwall schwüler Luft. Jetzt wird es erst richtig voll. Businessleute in Anzügen, das Handy am Ohr. Mütter mit schreienden Kindern. Freundinnen in knappen Ausgehkleidern und High Heels, die mich in eine Parfümwolke hüllen, dass ich keine Luft mehr bekomme. Plötzlich bin ich ziemlich froh um meinen Sitzplatz. Zumindest bis mir der deutschen Touri an der Haltestange vor mir seinen Deuter-Rucksack ins Gesicht drückt.

Rush-Hour in London ist echt der Albtraum jedes Introvertierten.

Doors Closing, sagt die Frauenstimme und wieder piepst es, als sich die Türen schließen und alle noch ein wenig enger zusammenrücken. Grelle Lichter ziehen an uns vorbei und blenden sich durch die Geschwindigkeit ineinander, während der Zug beschleunigt.

Nicht zum ersten Mal heute verfluche ich Eleanor dafür, dass mich ihr One-Way-Ticket so weit vom Stadtkern entfernt rausgespuckt hat.

So ist es sicherer. Und du wirst sehen, London hat ein hervorragendes U-Bahnnetz.

Hmm. Es hat vor allem ein extrem verwirrendes U-Bahnnetz. Bis ich mich in diesem Labyrinth aus bunten Linien zurechtgefunden habe, das die hier Fahrplan nennen, ist eine geschlagene Stunde vergangen. Immerhin weiß ich mittlerweile, wo ich hin muss. So ungefähr.

„The next stop is: Piccadilly Circus. Change here for the Piccadilly line."

„Uschi, da müssen wir raus", sagt der Tourist vor mir im breitesten Sächsisch und ich rolle mit den Augen. Na toll! Jetzt hab ich die zwei noch länger an der Backe.

Wieder piepsen die Türen und wir schieben uns in Richtung Ausgang. Mind the gap!, hallt eine andere Stimme durch den unterirdischen Röhrenbahnhof, als ich Uschis grünem Rucksack durch die gefliesten Tunnel folge. Während ich auf der übertrieben steilen Rolltreppe nach oben fahre (und um jeden Preis den Blick zurück vermeide, ich bin nicht schwindelfrei), huschen meine Augen über die Werbeplakate an den Wänden.

Christmas, heißt es auf einem, time for families to reunite in peace.

Haha. Und keiner hat's den Murrays gesagt.

In meinem Magen formt sich ein Knoten. Im Grunde ist er die ganze Zeit schon da, ich kann gar nicht mehr sagen, wann es angefangen hat. Seit ich weiß, dass ich eine Schatten-kontrollierende Magierin bin? Seit mich ein narzisstischer Freak mit Weltherrschaftsfantasien in seiner Festung eingesperrt und sich dann als Vater meines besten Freundes offenbart hat? Oder erst seit Demetra in Eleanors Armen verblutet ist?

In den letzten Tagen habe ich es mit aller Gewalt vermieden, an Demetra zu denken. Als neue Alumna der Schatten muss ich keine Schicht an ihrem Sterbebett übernehmen, wie die anderen Wächter, und insgeheim bin ich froh darüber. Wie sollte ich eine Stunde neben ihr sitzen, ihre Hand halten und sie ansehen, wenn es meine Schuld ist, dass sie dort liegt? Okay, ich war in Panik, wollte Hilfe, aber dabei habe ich alles nur noch schlimmer gemacht. Manchmal, wenn ich abgelenkt bin (zum Beispiel, weil ich gerade planlos in der Londoner U-Bahn herumirre) spüre ich die Schuld fast nicht. Und dann, so wie jetzt, nach dem kleinsten Trigger, flammt sie wieder auf wie eine Wunde, die nicht verheilen will. Die nicht verheilen kann, weil es nichts gibt, dass die Vergangenheit wieder gutmacht.

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