Reale Fiktion(1)

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Am Montag in der Schule tut mein Daumen immer noch weh. Eigentlich kein Grund zum Rumjammern, schließlich ist es nur ein kleiner Schnitt, aber der Schmerz erinnert mich bei jeder Bewegung daran, dass ich von nun an unwiederbringlich Mitglied eines uralten magischen Geheimkults bin.

Der und das Buch in meinem Rucksack.

Gestern, gleich nach meinem Blutpakt, hat mich Demetra zu einer verschlossenen True voller Bücher geschleppt. Aus diesem bunten Sammelsurium sollte ich mir eines aussuchen, das von nun an mein Portal nach Fabelreich sein würde. Seit dem Tod der Stormglen Schwestern ist es niemandem mehr gelungen, neue herzustellen, was diese Bücher ungeheuer wertvoll macht. Demetra hat mir eingeschärft, gut darauf aufzupassen und das tue ich, denn ich schleppe das Ding wirklich überall hin mit. Auch wenn ich es ein wenig gruselig finde, kann ich kaum erwarten, heute nach der Schule zum ersten Mal damit zu reisen.

Mein Vater hat die Ausrede sofort geschluckt. Ein Blick auf das von den Wächtern gefälschte Formular für Mathe Nachhilfe und er war überzeugt, ich würde von nun an nachmittags einen Förderkurs besuchen. Schaden würde mir die Nachhilfe tatsächlich nicht, ich bin nicht gerade Klassenbeste in Mathe.

Beim Wort Klassenbeste schnellt meine Aufmerksamkeit zurück zu dem Jungen mir gegenüber. Wir sitzen in U-Form und so habe ich praktisch keine andere Wahl als ihn anzuschauen, während er sein neustes Meisterwerk vorliest. Die Klasse lauscht gebannt, zumindest tut sie so. In Wahrheit hat sich wahrscheinlich mindestens die Hälfte geistig ausgeklinkt. Dazu gehören all jene, für die Deutschunterricht eine Qual ist, die Klausur für Klausur ums bestehen kämpfen und Kreatives Schreiben als eine Art vorgezogenes Fegefeuer empfinden.
Kilian, so heißt der junge Literaturgott, ist weit außerhalb ihrer Reichweite, das wissen sie ganz genau. In diesem Klassenzimmer gibt es nur eine, die es wagen würde, ihn herauszufordern.

Mich.

Die ganze Zeit bin ich unruhig auf meinem Stuhl gesessen und habe gewartet, bis Frau Müller-Huber die Hausaufgaben ausgeteilt hat. Bis jetzt haben wir nur Essays verfasst und immer war es Kilian, der seine Arbeit präsentieren durfte. Nicht, dass ich nicht auch gut gewesen wäre. Aber wenn ich ne eins schreibe, hat er sicher ne eins plus.

Heute, habe ich gedacht, heute ist meine Stunde. Der Moment, in dem ich unserem kleinen Möchtegern-Kafka zeige, dass er nicht allein in der Welt ist. Im Rahmen einer Projektarbeit mussten wir einen Text zum Thema Helden abgeben, als Alternative zu einer Klassenarbeit. Es kann alles sein, Kurzgeschichte, Essay, Romananfang. Süchtig nach Anerkennung, Lob und Bestätigung, wie ich nun mal bin, habe ich mein Herzensprojekt, einen Fantasy-Schinken, an dem ich seit einem halben Jahr arbeite, eingereicht. Fantasy ist meine Heimat, mein Revier. Wenn ich Kilian mit irgendwas schlage, dann damit.

Jetzt liegen meine ersten Kapitel vor mir auf der Tischplatte. Ein paar Rechtschreibfehler sind verbessert, der Seitenstreifen ist rot von fehlenden Kommas, aber eine Anmerkung sucht man vergeblich. Das muss ein Irrtum sein. Vielleicht hat eine Seite gefehlt?

Kilian ist mittlerweile fertig. Nach dem obligatorischen Applaus, der von meiner Seite aus eher Knöchelknacken ist, bekommt er seine „kalte und warme Dusche", wie es meine Lehrerin nennt. Sprich: Lob und Kritik.

Das Problem ist nur, dass Kilians „Dusche" eher einem Saunaaufguss gleicht. Auf der Schleimspur, die meine Lehrerin jetzt durch das Klassenzimmer zieht, könnte man ausrutschen.
Natürlich ist seine Geschichte perfekt. Gesellschaftskritisch, mutig, aktuell, voll zerrissener Figuren. Inzest, gestörte Familien, ungesunde Beziehungen und ein Protagonist, der so unsympathisch ist, dass man ihn von der ersten Seite an gegen die Wand klatschen möchte, es ist alles dabei. Seine Geschichte ist wichtig. Wertvoll.

Mein Blick senkt sich auf meinen eigenen Text und die Worte verschwimmen vor meinen Augen.

„Hast du dir überlegt, das mal an einen Verlag zu schicken, Kilian?"

Die Stimme von Frau Müller-Huber reißt mich aus meinem Selbstmitleid. Mein Magen rumort vor unterdrückter Wut. Eigentlich sollte ich dafür dankbar sein, der Zorn kaschiert immerhin meine Enttäuschung und verhindert, dass ich vor versammelter Mannschaft in Tränen ausbreche. Aber das ist doch nicht ihr Ernst? Der Kerl hat gerade einmal zwei Seiten geschrieben und sie sieht ihn schon als Schriftsteller? Hat sie überhaupt eine Ahnung, wie schwierig das ist? Jedes Mal, wenn ich durch eine Buchhandlung laufe, sticht es mir ins Herz, weil ich weiß, dass meine Chancen, Autorin bei einem großen Verlag zu werden, ungefähr so groß sind, wie ein Job als Primaballerina beim Staatsballett. Oder ein Millionengewinn. Oder Tod durch einen Kometen.

An meinem Hals beginnt es zu jucken. Sicher dauert es nicht mehr lange und er ist mit roten Flecken übersäht. Ich war einfach schon immer allergisch gegen Schwätzer.

Als ich Kilians Lächeln sehe, schnürt sich mir die Eifersucht um die Brust, wie das Springseil, mit dem ich mich heute Morgen in Sport abquälen musste. Ich stelle mir vor, wie der Honig, der ihm gerade ums Maul geschmiert wird, aus seinen Mundwinkeln tropft. Widerlich. Seine Antwort bekomme ich nicht mit, in meinen Gedanken steht er schon auf der Bühne und empfängt den Literaturnobelpreis. „I want to thank my mum and dad and my dear teacher, who always believed in me..."

Es läutet zum Schulschluss und meine Vision verpufft zu kleinen zornigen Rauchwölkchen. Plötzlich bin ich allein im Klassenzimmer. Ich hole tief Luft, nehme meinen Mut zusammen und gehe nach vorn zum Pult, wo meine Lehrerin gerade ihre Tasche zuschnappen lässt.

„Ähm..."

„Ja?", sagt sie und zieht die Stirn zusammen.

Man darf nicht den Fehler machen und sich Frau Müller-Huber jetzt als alten verbitterten Drachen vorstellen, der Schüler hasst. Das ist sie nämlich keineswegs. Sie ist eher der Typ frisch von der Uni. Der Typ liest die Pflichtlektüren freiwillig und feiert sie, weil sie ja so deep sind. Der Typ, der absichtlich die Restposten im Second-Hand-Laden kauft, die kein anderer will, um dadurch Widerstand gegen den Kapitalismus und das Patriarchat auszudrücken. Dieses Gesamtkunstwerk, das meist aus T-Shirt mit Aussage und Pluderhose besteht, kombiniert sie dann noch mit einem verworrenen Haarknoten, bei dem ich mir sicher bin, dass er mittlerweile als Nistplatz für seltene Vogelarten unter Naturschutz steht.

Also. Mehr vom Aussterben bedrohte Gelbbauchunke als Drache.

„Ich habe mich nur gewundert...", sage ich, „Unter meinem Aufsatz stand gar kein Kommentar."

Sie schaut mich an, lange und mit einem Blick, den man normalerweise einer Biotonne zuwirft, die in sengender Sommerhitze darauf wartet, geleert zu werden. „Das liegt daran, dass dein Aufsatz keinen Kommentar wert war." Ihre Worte treffen mich wie ein Schlag in die Magengrube. Ehe ich etwas entgegnen kann, lädt sie schon den Todesschuss: „Hör mir mal zu, Lina. Fantasy ist schön, wenn man ein Kind ist. Aber bei Erwachsenen wird es peinlich. Drachen, Ritter, das Gute siegt über das Böse...das sind infantile Traumwelten für Menschen, denen die Realität zu komplex ist. Nur Schriftsteller, die ihr Handwerk nicht genug beherrschen, um aus sich heraus eine spannende Geschichte zu schreiben, haben billige Tricks wie Magie nötig. Was du schreibst, ist keine Kunst, keine Literatur. Echte Künstler ringen mit der Zerrissenheit der Welt und ihren Abgründen, ohne eine Antwort darauf zu finden. Alle anderen lassen sich mit den kitschigen Lösungen der Trivialliteratur abspeisen." Den letzten Satz sagt sie in einem Ton, der deutlich macht, dass sie sich natürlich nicht zu dieser Art Leute zählt.
Klar. Sie liest ja deep.

„Oh." Mehr bringe ich auf die Schnelle nicht raus. Für die Worte, die ich als nächstes sage, gehöre ich eigentlich geschlagen: „Kann ich denn...", ich schlucke, „Vielleicht noch etwas anderes einreichen?"

„Das will ich hoffen." Sie steht auf, nimmt ein leeres Einmachglas vom Pult und steckt es in die Tasche. Den grauen Überresten nach zu schließen war mal Chia-Pudding drin. „Aber vielleicht konzentrierst du dich in Zukunft lieber nicht mehr so auf Fantasy...das sagt übrigens auch dein Mathelehrer."

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