Zwischenspiel: De profundis

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Als Kind hatte Mortimer viele und wechselnde Berufswünsche: Archäologe im alten Ägypten, Tierpfleger, Forscher im Regenwald, Feuerwehrmann oder Pirat. Vor allem letzteres hat ihn immer fasziniert, vermutlich, weil er selbst die Mauern von Stormglen Manor so selten verlassen hat. Der Gedanke dran, die sieben Weltmeere zu umsegeln, heute hier morgen da, war sehr attraktiv für ein Kind mit großer Fantasie und wenig Erfahrung mit der echten Welt. Genau dieses eine Bild hatte er sich hundertmal vorgestellt: er selbst auf dem Meer als Kapitän eines eigenen Schiffs, vor ihm Stormglen Manor.

Manchmal werden Kindheitsträume eben doch wahr.

In seinem Fall hat die Realität die Vorstellung sogar noch übertroffen. Schließlich ist es nicht nur ein Schiff über das er befehligt, sondern eine ganze Flotte. Sein eigener kleiner Teil von Damons Truppen. Ein Geschenk und Vertrauensbeweis seines Vaters. Und ein Geschenk, das jetzt selbst einen Vertrauensbeweis seinerseits verlangte.

Neben ihm am Deck des Schiffs steht Alekto. Die bloße Anwesenheit der Furie zeugt davon, dass sein Vater ihm noch immer nicht hundertprozentig vertraut. Offiziell muss sie ihn unterstützen und beraten, aber Mo weiß, dass sie ihn in Wahrheit überwachen soll. Sichergehen, dass er im Angesicht seiner alten Heimat und Freunde die nötige Grausamkeit zeigt, die Verrätern gebührt.

„So viel Aufhebens um einen hässlichen Kasten aus grauem Stein." Alekto lässt probehalber ihre Peitsche knallen. Ihre Schlangenhaare tanzen um ihr hässliches Gesicht und im Licht der grünen Irrlichter-Käfige am Mast über ihnen, sieht er wie die Tiere zischend ihre Mäuler aufreißen und winzige, aber spitze Fangzähne offenbaren. Sicher voller Gift. Zur Feier des Tages trägt Alekto ein zerfetztes rotes Kleid, das ihre klauenbesetzten Füße und Hände freilässt. Auf eine Rüstung hat sie verzichtet, aber bei der dicken ledernen Haut ist das vielleicht auch nicht nötig. Die Furie hat jedenfalls mehr Kampferfahrung als irgendjemand sonst auf diesem Schiff. „Zu meiner Zeit kämpfte man um Tempel aus weißem Marmor für Götter und Könige."

Mo sagt ihr nicht, dass dieser graue Kasten ihm mehr bedeutet, als alle Göttertempel der Welt zusammen. Es gab Zeiten, da hätte er sämtliche Reichtümer der Welt gegeben für einen weiteren Tag vor dem Kaminfeuer im Kollegium der Schatten, neben ihm Lina und Eleanor, ausnahmsweise mal nicht streitend.

Beim Gedanken an Lina wandert sein Blick, die Fassade entlang bis hinauf zu den Zinnen des erleuchteten Hauses. Er hat die bunten Gestalten längst ausgemacht, den verschwommenen silbrig-grauen Punkt in ihrer Mitte, der die Priorin sein muss. Lina sieht ihn, da ist er sich sicher. Und er sieht sie, zum ersten Mal seit Monaten. Seit jenem verhängnisvollen Gespräch, am Abend nach Eleanors Tod im Zimmer der Priorin:

Wir müssen reden, Lina, sagte er.

Ja, das müssen wir.

Du bist jetzt Priorin. Dein Platz ist in Stormglen Manor. Aber das ist nicht mehr mein Weg.

Wochenlang hatte er jede Erinnerung an sie zurückgedrängt. Wenn er an Damons Tafel gesessen hatte, zur Rechten seines Vaters, war sein Gesicht eine Maske gewesen. Jede Geste genau geplant. Seine Antworten kühl, wohl überlegt, nicht zu schnell, aber auch nicht zu zögerlich. Der perfekte Sohn. Der perfekte Thronfolger. In Rom war es ihm leichter gefallen, seine Rolle zu spielen. Diese Stadt, mit ihren dunklen Gassen und Räumen voller Büsten antiker Kaiser schrie geradezu nach Intrigen und Verschwörungen in nächtlichen Gärten unter Zitronenbäumen. In gewisser Weise hatte sein Leben davon abgehängt. Aber jetzt, hier inmitten der kalten, salzigen Luft, vor ihm die hell erleuchteten Fenster Stormglen Manors, so nah am Ufer Fabelreichs, holen ihn die Erinnerungen mit einem Schlag wieder ein. Rom und alle Erinnerungen daran, Erinnerungen an stickige Beratungen über Schlachtpläne, an kühle Umarmungen seines Vaters, an sein großes Himmelbett in einem teuren, leeren Raum, an schlaflose Nächte und schlechtes Gewissen...all das fällt von ihm ab, wie ein böser Fiebertraum. Er sieht wieder Lina vor sich, ihre orangenen Locken und die Sommersprossen auf ihrer Nase, wenn sie lacht. Er fühlt sie sogar, ihre Haare, die seine Wange kitzeln und ihre warme Haut, als sie die Arme um ihn gelegt hat, in der Nacht von Eleanors Opfer. Zum ersten Mal seit Wochen hat er das Gefühl wieder frei atmen zu können.

Sie haben ihr viel zugemutet, er hat ihr viel zugemutet, die letzten Monate. Und doch steht sie noch da, aufrecht und bietet ihren Angreifern die Stirn. Sein Vater hatte nur gelacht, als er von Eleanors Wahl ihrer Nachfolgerin erfahren hat.

Ein Mädchen als Priora! Sie hat wirklich den Verstand verloren.

Aber dann hatten sie Berichte gehört, Gerüchte, wonach sie Verhandlungen mit Asteria und Eleos geführt hat. Sein Vater wurde stiller und stiller. Bei ihm immer ein Zeichen echter Sorge. Wenn auch nur ein Bruchteil dessen stimmt, was man sich über die junge Priorin erzählt, dann hat Lina Büchner sie alle überrascht.

Schließlich hatte er sich an Mo gewandt. Du kennst das Mädchen. Wenn irgendjemand ihre Schwäche ist, dann du. Das ist deine Chance, dich zu beweisen, Sohn. Ich gebe dir einen Teil meiner Leute. Wir greifen gemeinsam an, an zwei Fronten, vom Meer und vom Land. Ich zerstöre die Schilde, du gehst rein und versuchst an sie ranzukommen. Schalte sie aus, mach das Kolleg führungslos. Wie, überlasse ich dir.

Mo hatte sich verneigt, das Gesicht eine Maske. Natürlich, Vater.

Damon hat ihm nie genau verraten, was er vorhat oder wann er angreifen würde. Weder ihm, noch seiner Mutter. Auch das Tagebuch und die Fiole mit Eleanors Blut trägt Damon immer bei sich, ohne eine Chance ranzukommen. Seit Eleanors Verrat ist ein letzter Funke Mittrauen in ihm zurückgeblieben. Jeder wusste zwar, dass er das Ritual durchführen will, aber wie und wo genau, hatte er ihnen erst gestern mitgeteilt. Zu spät, als dass Informationen nach außen dringen konnten. Und trotzdem brannten dort am Ufer vor ihnen Feuer. Er sieht die Köpfe von Sirenen aus dem Wasser schauen, sieht Menschen in langen Reihen auf dem Rasen und dem Dach von Stormglen stehen. Die Wächter erwarten sie.

Also hat Lina es selbst rausgefunden. So viel zum Thema Überraschungsangriff.

Wenn es stimmt, dann hate Damon sie fatal unterschätzt.

„Ich rieche Menschen", knurrt Alekto neben ihm und spannt ihre Fledermausflügel. Fehlt noch, dass sie sich die Lippen leckt. „Viele Körper, voll mit warmem Blut. Der Herr hat mir ein Festmahl bereitet."

„Es sind mehr als erwartet." Mo versucht ruhig zu sprechen, aber versteckt unter seinem Ärmel ballt er die Hand zur Faust.

De profundis.

„Umso besser." Alekto lacht, es klingt wie das Knarzen von altem Leder. „Keine Sorge, junger Herr Blackwell. Es wird nicht lange dauern. Ihr seid schneller wieder zuhause, als Ihr blinzeln könnt."

Mortimer spürt die Schatten, spürt wie sie seinem Ruf folgen, aus der Tiefe aufsteigen, genährt von Wochen und Monaten der unterrückten Wut, der Trauer und des Hasses. Sie pochen an seinen Fingerspitzen, klopfen an, bitten ungeduldig um Durchlass.

Langsam kehrt er Stormglen Manor den Rücken, wendet sich Alekto zu. Zwingt sich in die gelben, grausamen Augen zu schauen, stellt sich vor, es wären seine eigenen Augen im Gesicht seines Vaters. Monatelang hatte er sich vorbereitet, geübt, gewartet. Alles für diesen Moment. „Mein Name ist Murray", sagt er leise, während er endlich die Fäuste öffnet und die Schatten freilässt. Wenn sie eine Stimme besäßen, hätten sie geschrien vor Jubel. „Mortimer Murray, nach meiner Mutter und meiner Tante." Er reckt das Kinn. Schatten strömen aus seinen Handflächen, bereit zu verschlingen, zu zerstören. „Und ich bin zuhause."

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