Die Muse und die Gärtnerin

406 47 1
                                    

Das erste ist der Geruch. 

Kein Blut mehr, kein kalter Stein und Rauch einer fernen Schlacht. Stattdessen...

...Rosen.

Ich schlage die Augen auf. Unter mir ist trockene, fest gestampfte Erde. Dornen so dick wie Finger ranken sich um mich, bilden ein graues, undurchdringliches Gestrüpp. Neben mir auf der Erde liegt Constanze. Sie muss sich an mich drangehängt haben, als ich durch das Portal gesprungen bin. Offenbar ist sie schon eine ganze Weile länger bei Bewusstsein, denn ihre schwarzen Kleider sind zerrissen und ihre Finger blutig von Dornen, wo sie versucht hat einen Weg durch die Hecke zu finden.  Vorsorglich robbe ich ein Stück von ihr weg, aber sie scheint mich gar nicht wahrzunehmen. Ihre Aufmerksamkeit ist voll auf die Dornen um sie herum gerichtet. Auf allen vieren, mit fahrigen Händen tastet sie rechts und links  und zuckt heulend zurück, wenn sie ein Stachel erwischt. Die Geräusche, die sie dabei von sich gibt erinnern irgendwie an Gollum aus dem Herrn der Ringe und kurz fürchte ich, dass sie sich beim Sturz den Kopf gestoßen hat. Ihr Verstand scheint jedenfalls ziemlich in Mitleidenschaft genommen.

Noch verblüffter bin ich allerdings als ich aufstehe und über die Dornen schaue. Was vom Boden aus wie ein undurchdringlichen Labyrinth im Dornröschen Style gewirkt hat, stellt sich jetzt einfach als eine niedrige Hecke heraus. Darüber ist der Himmel blau und ich kann bis zu einer nahen Schlucht sehen, wo die trockene, dornenbewachsene Ebene in einen Abgrund übergeht. Eine schmale Steinbrücke ohne Geländer zieht sich darüber. Auf der anderen Seite ist das Bild ein völlig anderes. Grüne Wiesen mit sanften Hügeln und Baumgruppen ziehe sich bis zum Horizont. Dort, wo die Brücke ankommt, ist ein Garten. Und in dem Garten, direkt hinter dem Eingang, steht eine Gestalt. Eine Frau.

Ich keuche auf.

Meine Füße reagieren schneller, als mein Verstand. Ich bemerke gar nicht, dass mir die Dornen freiwillig Platz machen, so schnell renne ich über die trockene Erde und die Brücke. Normalerweise hätte ich bei solchen Konstrukten Höhenangst des Todes. Heute denke ich nicht mal über den Abgrund nach. Schon stehe ich am Eingang des Gartens.

Vor mir erstreckt sich eine riesige Parkanlage volle Blumen und Stauden, die ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen habe. Der Duft ist atemberaubend. Pfirsich und Feige und Rose und frisch gemähtes Gras, verwirbelt von einer feinen Brise, die meine Haut kühlt, während die Sonnen sie wärmt. Die Temperatur ist perfekt, wie ein lauer Sommerabend. Vom Eingang ausgehend, windet sich ein Kiespfad tiefer in den Garten. Und dort, genau in der Mitte, steht sie.

Ihre Robe hat die Farbe von Holunderblüten, cremigstes Weiß und ist geschnitten wie das Kleid einer griechischen Göttin. Eine durchscheinende Schleppe aus zarter Seide fällt von ihren Schultern herab und flattert zusammen mit ihren Ärmeln in der Brise. Seit ich sie kenne, hat sie nie etwas Derartiges getragen und trotzdem kann ich sie mir plötzlich in nichts anderem mehr vorstellen. Sie wirkt weniger stofflich, mehr wie ein Geist oder ein Engel. Ihr graues Haar schimmert silberner als sonst, es ist elegant hochgesteckt ohne dass man irgendeine sichtbare Haarnadel sehen würde. Jetzt lächelt sie und in diesem Moment bin ich mir sicher, dass es wirklich sie ist:

Demetra.

„Ich bin kein Geist, Lina. Du kannst mich berühren."

Ich bleibe stehen, unsicher, verharre auf meinem Platz. „Wie kannst du...hier sein?"

„Ich habe auf dich gewartet. Das war mein Auftrag." Auf einmal bekommt ihr Lächeln einen traurigen Ausdruck. „Ihr habt euch so gut um mich gekümmert. Sag den anderen, dass ich ihnen dankbar bin, würdest du? Ich habe jedes Wort gehört, das ihr an meinem Krankenbett gesprochen habt."

Auf einmal merke ich wie ich rot werde. „Jedes?"

„Jedes."

„Es..." Meine Augenwinkle werden feucht. „Es war so schwierig ohne dich."

FabelblutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt