Spartakus 2.0 (3)

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Gleich ist schon in der Theorie ein sehr dehnbarer Begriff und wie sich herausstellt, haben Mo und ich ziemlich unterschiedliche Auffassungen davon. Entweder ist Demetra immer noch nicht da, oder die beiden haben sich sehr viel zu sagen, von Mo fehlt jedenfalls auch nach einer halben Stunde noch jede Spur. Nachdem ich eine weitere halbe Stunde wie bestellt und nicht abgeholt neben Eleanors Bett herumgesessen bin, merke ich, wie ich langsam unruhig werde. Mein Herz schlägt immer noch spürbar schneller und meine Beine kribbeln.

Zuerst der Angriff, dann der Schock über Eleanors Zustand, mein Körper war die letzten Stunden über in ständiger Alarmbereitschaft. Wahrscheinlich könnte ich aus dem Stand einen Marathon laufen, so vollgepumpt mit Adrenalin wie ich bin. Ich muss irgendwas tun, sonst drehe ich durch.

Mein Blick wandert über das Durcheinander, das Mo auf der Suche nach dem Milkweed in Eleanors Zimmer hinterlassen hat. Wenn du in deinem Kopf aufräumen willst, dann fang in deinem Zimmer an. Vielleicht sollte ich endlich mal den Rat meiner Mutter befolgen. Ordnung im Kopf könnte ich gerade wirklich gut gebrauchen. Zumindest die Bücher am Boden zurückstellen, das wäre drin. Der Anblick tut mir ja richtig weh.

Eleanor hat ihre Regale nach Autorennamen sortiert - natürlich, die Frau muss wirklich in allen Dingen ein Streber sein - und so dauert es eine Weile, bis alle wieder an ihrem alten Platz stehen. Die konzentrierte Arbeit hat eine angenehm beruhigende Wirkung auf mich. Als ich fertig bin, wird es schon dunkel. Ich entzünde die Lampe auf dem Nachttisch und schiebe das letzte Buch, eine englische Übersetzung von Goethes Faust, zurück in seine Lücke. In meinem Regal zu Hause steht auch eine Ausgabe von Faust, einsam und verstaubt, das ist allerdings schon unsere einzige Gemeinsamkeit. Eleanor hat eine Menge Bücher, aber keinen einzigen Unterhaltungsroman. Nichts, was man lesen würde, wenn man einfach Spaß haben will. Ihr Regal ist voller Sachbücher oder Klassiker, die Knoten ins Gehirn machen und die ich nur kaufe, wenn die Schule mich zwingt. Mit einem Schaudern stelle ich fest, dass ausnahmslos alle Autoren in ihrem Regal tot sind. Im flackernden Orange der Lampe flammen ihre Namen auf wie kurze, brillante Lichtblitze des menschlichen Geistes. Shakespeare und Marlowe, Nietzsche und Jung, Goethe und Schiller, Tolkien und Lewis. Eleanors Bücher sind eine Reise durch Schuld und Sühne, Liebe und Hass, Leben und Tod. Fein säuberlich aufgelistet in alphabetischer Reihenfolge. Ich kenne echt niemanden, der so ordnungsfanatisch ist.

Kein Wunder, dass Eleanor immer so zynisch wirkt. So eine Lektüre muss einem irgendwann aufs Gemüt schlagen. Vielleicht irre ich mich aber auch. Wir lesen und lieben schließlich immer die Bücher, in denen wir uns selbst widerspiegeln. Zumindest facettenweise. Kann es sein, so skurril der Gedanke auch ist, dass sich Eleanor in diesen Geschichten von Monstern und Halbgöttern tatsächlich selbst findet? Muss sie den Rat der toten Helden suchen, weil keiner der Lebenden ihre Bürde versteht? Eine Antwort auf die Frage, wie Menschen mit übermenschlicher Macht umgehen sollen?

Mein Blick wandert durch den dunklen Raum, über die alphabetisch geordneten Bücher, die Whiskyflasche und zum Schachbrett auf der Kommode. Ordnung. Kontrolle. Grenzen.

Auf einmal wird mir einiges klar.

„Möchtest du dir was ausleihen?"

Ich wirble vom Bücherregal herum. Eleanor hat die Augen geöffnet. Ihre Stimme ist kratzig, als hätte sie wochenlang nicht gesprochen, aber für jemanden, der bis vor kurzem noch im Delirium schwebte, ist ihr Ton schon wieder unangebracht scharf. Meine Wangen glühen. Auch ohne einen Blick in den goldgerahmten Spiegel gegenüber weiß ich, dass ich rot geworden bin. Ich hasse mich dafür. „Wie wäre es mit einem Danke, Lina, dass du mein Zimmer aufgeräumt hast, während ich einen ekstatischen Anfall hatte?"

In Eleanors Miene verändert sich etwas. Ich sehe an ihren Augen, wie die Erinnerung zurückkommt. Sie schluckt. „Hat noch jemand etwas davon-"

„Nur Mo", schneide ich ihr das Wort ab. „Wir haben dich hergebracht, bevor du komplett ausgetickt bist. Wenn er nicht das Milkweed gefunden hätte..." Ich lasse den Rest des Satzes unausgesprochen. Eleanor versteht auch so.

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