Gretchenkomplex (1)

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„Lina?"

Da ist eine Stimme neben meinem Ohr.

„Kannst du mich hören?"

Langsam dringen die Worte in mein Hirn, gedämpft wie durch Watte. Vielleicht ist es tatsächlich Watte. Mein Kopf liegt jedenfalls auf etwas Weichen. Er tut weh, genau wie der Rest meines Körpers. Lina...das bin ich, oder? Ich bewege einen Finger. Sie sind steif und kalt. Ich ziehe die Schultern nach ohne, versuche, mich aufzurichten, aber jemand drückt mich zurück in mein weiches Watte-Kissen-Ding.

„Bleib liegen." Kühle Finger streichen über mein Gesicht, legen sich auf meine Stirn. Instinktiv will ich die Augen öffnen. Meine Lider sind verklebt und ich muss ein paarmal kräftig blinzeln, bevor sich meine Sicht klärt.

Ich liege in einem schmalen Bett. Jemand hat mich in eine Decke gewickelt und mir die Kapuze über den Kopf gezogen. Das weiche watteartige Kissen offenbart sich als Innenfutter meiner eigenen Winterjacke.

Der Raum um mich herum ist eng und dunkel. Durch einen Sehschlitz in der Tür dringt Fackelschein von Gang herein und als ich meinen steifen Nacken drehe, um zu sehen, vorher die eisige Luft hier kommt, sehe ich, dass neben meinem Bett ein Fenster in die dicke Steinmauer eingelassen wurde. Es ist schmal, kaum größer als die Schießscharten einer mittelalterlichen Burg. Trotzdem sind Gitter davor angebracht. Darunter kann ich das Meer gegen die Felsen branden hören. Hin und wieder trägt der Wind eine Gischt gefüllte Böe durch die Gitterstäbe. Mittlerweile hat sich vor dem Fenster schon eine richtige Pfütze aus Meerwasser und Mondlicht gesammelt. Nur ein schmaler Streifen des Lichts schafft es tiefer in den Raum und ich folge ihm, bis zum bleichen Gesicht und den zusammengekniffenen Lippen einer Frau.

„Also hat er dich doch nicht umgebracht." Ich klinge, als hätte jemand mit einer Käsereibe über meine Stimmbänder geraspelt.

Noch nie in meinen Leben war ich so froh, Eleanor zu sehen.

„Dein Auftritt hat ihn erfolgreich abgelenkt." Sie fasst auf den Nachttisch und hält mir eine Tasse hin. „Trink."

Ich greife nach dem Becher, aber meine Finger sind so steif gefroren, dass sie mir helfen muss, ihn an die Lippen zu setzen. Vorsichtig nehme ich einen Schluck und ziehe die Brauen zusammen. „Es schmeckt-"

„-süß, ich weiß." Eleanor bedeutet mir mit einem ungeduldigen Nicken weiterzutrinken. „Sie haben mich vom ersten Tag an unter Drogen gesetzt." Natürlich. Wäre Eleanor im Besitz ihrer Kräfte, würde Alekto nicht so selbstsicher um sie herumspazieren      „Uns bleibt die Wahl zwischen verdursten, oder Milkweed. Also trink das jetzt leer. Und setz deine Kapuze wieder auf. Es war dumm genug von dir herzukommen. Sei wenigstens nicht so dumm und erfriere auch noch."

„Charmant wie immer." Ich nehme den letzten Schluck und gebe ihr den Becher zurück. „Freut mich, dich in so guter Verfassung zu sehen."

Eleanor schnaubt. „Ich wünschte, ich könnte das gleiche sagen. Was machst du hier?"

„Na dreimal darfst du raten."

„Aber ... wie hast du mich gefunden?"

„Hades und Persephone. Ob du es glaubst oder nicht: Man muss nicht in Oxford studieren, manchmal reicht auch ein einfaches Wald-und Wiesengymnasium, um griechische Mythologie zu kennen. Mo und ich haben dich im College gesucht, aber du warst nicht da. Und dann haben wir Granatapfelkerne gefunden. Zuerst dachten wir, die Rebellen hätten dich. Aber als wir dann dort waren, hat Nicolas uns die Wahrheit erzählt."

„Ihr habt mit Nicolas gesprochen?"

Ich nicke.

„Nicolas!" Eleanor fährt sich mit der Hand über das Gesicht. Erst jetzt sehe ich, dass sie zittert. „Gott, wie lange ist das her? Hat er sich verändert? Wie sieht er aus?"

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