Dreifach verraten (1)

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Meine Wange schlägt auf kalten Stein. Sofort ist alles wieder da...die Dunkelheit, die Kapelle, die blauen Fackeln.

Ein weiterer Schlag dicht neben mir, verrät mir, dass auch Constanze vom Portal zurück in unsere Welt gespuckt wurde. Ich kann sehen, wie sie sich neben mir bewegt, dann höre ich ein Surren, sehe einen silbernen Blitz.

„Eleanor, nein!" Das ist Nicolas Stimme. Er steht am anderen Ende des Raums, neben der Tür. Es ist noch immer Nacht, aber der Himmel vor den Fenstern hat schon ein wässriges Tintenblau angenommen. Offenbar sind seine Verletzungen nicht so schlimm gewesen, denn er wirkt schon wieder recht sicher. Von Damons Leiche und den anderen Wächtern ist nichts mehr zu sehen.

Eleanor kniet neben mir am Boden, aber ihre Aufmerksamkeit gilt nicht mir. Sie hat Constanze, an den Schultern zu sich heraufgezogen und hält ihr einen silbernen Dolch an die Kehle. Ihre Hand zittert, ihre Lippen sind ein einziger dünner Strich.

„Tu es", krächzt Constanze, „Worauf wartest du?"

Nicolas schüttelt den Kopf. „Sie ist es nicht wert. Eleanor! Du bist keine Mörderin. Nicht für sie."

Eleanor hört nicht auf ihn. Sie drückt die Klinge fester in Constanzes Kehle, bis ein dünner Strahl Blut fließt. Blitzschnell zieht sie eine Fiole aus dem Umhang und fängt es auf. Dann erhebt sie sich. Constanze sinkt hustend zu Boden.

„Bring es zu Flavius, beeile dich", sagt Eleanor, während sie auf die ehemalige Alumna hinuntersieht als sei sie ein ekliges Insekt. „Er soll den Trank für Demetra ansetzen. Und sie hier sperren wir ein, bis wir entscheiden, was mit ihr zu tun ist."

Mühsam versuche ich aufzustehen. In meinem Kopf dreht sich alles. Eleanor begegnet meinem Blick, ich sehe wie ihr Mund Worte formt, aber hören kann ich schon nichts mehr außer einem leisen, hohen Piepen. Dann wird mir schwarz vor Augen.

Ich wache auf –natürlich, mal wieder- in einem Bett der Krankenstation. Mittlerweile ist es Tag geworden, dem Licht nach zu schließen. Als ich den Kopf drehe, um zu testen, ob mir schwindelig wird, fällt mein Blick auf die Frau im Bett neben mir. Sie sitzt aufrecht und schon wieder vollständig angezogen auf der Decke, eine Tasse Tee in der Hand.

Margret.

„Hey." Sie lächelt. „Soll ich Eleanor holen? Sie ist gerade erst gegangen, als Flavius sie weggescheucht hat."

Ich setze mich auf. „Du lebst?" Vermutlich nicht gerade die höflichste Begrüßung, aber nach allem, was ich in den letzten Monaten erlebt habe, bin ich ein Fan von schnellen, klaren Informationen geworden. „Wie?"

„Die Wunde von Damons Dolch hat sich selbst wieder verschlossen, kurz nachdem du durch das Portal verschwunden warst. Es ist nichtmal ein Kratzer gelieben."

„Aber..." Dann kapiere ich es. „Der Pakt der schwarzen Waage. Damon konnte uns nichts tun, keinem von denen, die Eleanor liebt. Da warst du miteingeschlossen?"

Sie zuckt mit den Schultern, ein wenig hilflos. „Hat mich auch überrascht. Es war bevor ich ihr das Leben gerettet habe. Ich dachte lange, sie hasst mich."

„Und ich dachte lange, du hasst uns alle."

„So kann man sich täuschen."

„Was ist passiert, während ich weg war? Was ist mit der Belagerung?"

„Damon ist gestorben. Wir haben ihnen seine Leiche gezeigt. Daraufhin sind die meisten Fabelwesen geflohen. Einige Wächter konnten wir gefangen nehmen. Es wird demnächst eine ganze Reihe an Gerichtsprozessen geben. Unter anderem den von Constanze."

„Asteria hat überlebt?"

„Ja. Sie erholt sich gerade."

„Und Mo?"

Bei seinem Namen huscht ein Schatten über Margrets Gesicht. „Die Sirenen suchen noch nach ihm."

„Okay." Auf einmal möchte ich nichts mehr als sie und mich ablenken. „Erzähle mir, was ich verpasst habe. Du und Eleanor? Ich dachte sie ist tot und du an Damons Seite?"

Margret lächelt wieder. „Das ist eine lange Geschichte."

Wir reden gefühlt Stunden, bis Flavius zurückkommt und mich mit viel Aufsehens untersucht. Wahrscheinlich nicht verwunderlich, schließlich bin ich als Priora jetzt irgendwie wichtig. Mein Sprung durch das Portal wird sich schnell rumsprechen, vor allem, wenn die ersten die Veränderungen bemerken. Bis dahin muss ich wieder fit sein.

Ich fasse Flavius am Ärmel und halte ihn zurück. „Hast du Demetra Constanzes Blut gebracht?"

„Ja, Priora, aber-"

„Und?"

Flavius weicht meinem Blick aus. „Es...es war zu spät. Demetra..." Er schluckt. „...sie ist vor drei Stunden verstorben."

Ich lasse seinen Ärmel los, mein Kopf fällt zurück ins Kissen. In meiner Brust breitet sich Leere aus, schmerzhafte, hallende Leere.

Drei Stunden. Das war in etwa zur der Zeit, in der ich im Garten der Muse gewesen sein muss.

Ich schließe die Augen, eine Träne rinnt mir auf die Wange. „Danke", flüstere ich in die Stille.

Als ich etwas gegessen und getrunken habe und endlich kräftig genug zum Laufen bin, lege ich meinen Umhang an und verlasse die Krankenstation. Überall auf dem Weg nach untern sehe ich die Schäden am Gebäude. Es wird lange dauern, bis sich Stormglen Manor von den Ereignissen dieser Nacht erholt hat, lange Wochen und Monate des Wiederaufbaus. Aber immerhin, wir existieren noch. Frei und ohne Damon als Herrscher. Besser als zuvor.

Draußen im Hof erwartet mich bereits eine Gruppe Schaulustiger. Wächter und Fabelwesen gleichermaßen haben sich um den Steinbogen versammelt, der jetzt mitten im Hof steht.

Ein großes, steinernes Tor, gefüllt mit silbrig, waberndem Nebel.

Kurz halte ich inne, erstaunt, meine eigene Schöpfung tatsächlich vor mir zu sehen, meine Idee in Fleisch und Knochen. Dann wende ich mich an die Versammelten:

„Ihr steht vor dem Tor zu einer neuen Welt. Einem Portal von Fabelreich in die Reiche der Menschen. Einem festen Portal, unabhängig von Wächtern oder Büchern. Es ist eure in Stein gehauene Versicherung. Ich halte mein Wort: Jedes Fabelwesen, dass es wünscht zu gehen, darf und kann das jetzt tun. Fabelreich ist kein Paradies. Aber für viele von euch ist es ein zuhause geworden, ein sicherer Hafen, wo ihr sein dürft wie ihr seid, nicht wie euch die Welt gerne hätte. Für solche von euch, die bleiben wollen wird hier immer ein Platz sein. Und auch für jene, die zurückkehren wollen, steht das Portal offen.

Das hier ist nicht nur die Schwelle zu einer neuen Welt. Es ist die Schwelle zu einer neuen Zeit. Einer Zeit der Zusammenarbeit zwischen Wächtern und Fabelwesen. Ich habe meinen Teil dazu beigetragen. Die Zukunft liegt jetzt in der Hand von euch allen."

Ich verstumme. Die Menge teilt sich und macht Platz für eine Elfe, getützt von zwei weiteren.

Asteria.

Sie lächelt, als sie mich sieht. Ihr goldenes Kleid verdeckt die Stelle, wo einst ihre Flügel saßen. Ich gehe ihr entgegen und sie greift nach meiner Hand, drückt sie fest.

„Eure Flügel", stammle ich, „Es tut mir leid, ich wusste nicht wie-"

„Es ist alles gut, Lina", schneidet sie mit sanft das Wort ab, „Meine Flügel waren ein kleines Opfer für das hier." Sie nickt dem Steinbogen zu und wieder blitzt Sehnsucht in ihren Augen auf, wie damals in der Nacht im Tal der Älteren. „Erste auf der Schwelle einer neuen Welt. Dank dir erfüllt es sich. Dank dir sind wir frei. Du hast Wort gehalten. Mögen wir uns wiedersehen, Lina von Stormglen. Möge unsere Freundschaft überdauern. An meiner Tafel sind du und die deinen immer willkommen. Lebe wohl."

Ich trete zurück, als Asteria auf den Steinbogen zuschreitet. Sie schließt die Augen, hebt den Kopf dem Neben entgegen, goldenes Licht fällt auf ihr schönes Gesicht. Dann tritt ihr Fuß über die Schwelle und sie ist verschwunden.

„Lebt wohl", murmele ich, ein leises Gefühl von Traurigkeit im Magen, wie als hätte ich etwas verloren, dass mir wichtig war.

„Lina!" Roxys Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Sie kommt den Rasen entlanggespurtet, Faustia keuchend auf den Fersen. „Komm schnell! Unten am Strand!"

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