Heimspiel (1)

397 47 5
                                    

Wir stehen auf der Dachterrasse. Es ist der gleiche Ort, an dem ich vor wenigen Monaten mit Mo die Sternschnuppenschauer betrachtet habe. Nur, dass sich mein Blick diesmal nicht nach oben, sondern nach unten richtet. In der Ferne, auf der Straße, die sich als schwarze Linie durch das endlose wogende Meer des Geteilten Waldes zieht, tanzen hunderte Lichter auf und ab. Fackeln, die ständig größer werden. Mein Mund wird trocken und ich balle die Hand zur Faust.

An meiner Seite flankieren mich die Alumni, ihre gelben, grünen, blauen und schwarzen Umhänge, wehend im Nachtwind. Überall auf dem Dach entlang der mittelalterlichen Zinnen stehen Bogenschützen. Geflügelte Elfen und Phönixe, die Gesichter starr dem Feind zugewandt. Ich weiß, dass sich hinter den Fenstern von Stormglen Manor noch mehr von ihnen verstecken. Auf dem Rasen hinter uns und zu unseren Füßen wartet das grüne Kollegium, unterstützt von hunderten Fabelwesen.

Auch Asteria steht jetzt bei uns, das Gesicht ernst und bleich. Manche der Elfen tragen Rüstungen, die an Insektenpanzer erinnern, aber sie nicht. Ihr Kleid ist lang und rein weiß, zum Kämpfen eigentlich nicht wirklich geeignet. Von ihren Schultern abwärts ragt ein silbernes Flügelpaar aus ihrem Rücken, dessen Spitzen den Boden berührt. Es sieht beeindruckend aus, ein feines Gespinst aus zartem, aber gleichzeitig stabilem Material. Ich habe Asteria noch nie mit Flügeln gesehen. Vielleicht kann sie die unsichtbar machen oder sonst wie vor Menschen verbergen, wenn sie gewöhnlicher wirken will. Heute jedenfalls scheint ihr das nicht so wichtig zu sein. Heute zeigt sie sich allen, wie sie wirklich ist.

Asteria tritt einen Schritt auf mich zu und als sie ihren Fuß hebt, sehe ich, dass sie barfuß ist. Auch das scheint sie nicht zu stören.

„Ich sehe dein Herz, Lina", sagt sie leise, sobald sie direkt neben mir steht, damit es nur wir beide hören können. „Lege deine Rachegedanken ab. Sie tun dir nicht gut. Hass wird dich vom Wesentlichen ablenken, dich schwächer machen. Du musst schützen, nicht zerstören."

Am liebsten hätte ich gelacht. Wirklich, ausgerechnet jetzt brauche ich keinen moralischen Vortrag.

„Du willst die Freiheit von Fabelreich schützen denke daran", fährt sie fort, „Nicht diesen Mann bestrafen."

Dieser Mann hat Eleanor auf dem Gewissen. Wie bitte soll ich da keine Rachegedanken haben?"

„Eleanor hätte nicht gewollt, dass du sie rächst."

„Es ist mir egal, was sie gewollt hätte", fauche ich, „Ich will es! Blackwell bezahlt für das, was er getan hat."

„Mein Volk ist nicht herkommen, um einer Schattenwächterin bei ihren Rachefantasien zu helfen, sondern um unsere Freiheit zu verteidigen! Konzentriere dich auf das, was wichtig ist."

„Und das wäre?"

„Leben retten, nicht nehmen. Es gibt nur zwei Gründe, um einen Krieg zu führen. Wähle deinen."

„Nervt Ihr eigentlich jeden immer so mit Euren kryptischen Andeutungen oder nur mich? Muss ich das jetzt ewig aushalten?"

„Wohl kaum. Ich sterbe heute Nacht."

Kurz glaube ich, mich verhört zu haben. „Wie bitte?" Mein Kopf schnellt zu ihr herum, aber ihr Profil ist so ernst wie immer und verrät kein Gefühl. Dann dämmert es mir langsam. Meine Augen werden weit. „Die Vision. Eurer Zusammenbruch...Ihr habt..."

„Ich habe meinen Tod gesehen, ja", sagt Asteria ruhig.

Deswegen wirkte sie so aus der Fassung gebracht. Jetzt macht einiges Sinn.

„Aber.." Noch immer versuche ich mir einen Reim auf die Sache zu machen. „...Ich dachte, Euch wäre prophezeit worden, eine neue Zeit zu sehen. Das habt Ihr Eleanor gesagt. Frauen eine neuen Zeit..."

Asteria nickt. „Die erste auf der Schwelle einer neuen Welt. Richtig. Aber da heißt es nirgendwo, dass ich diese Schwelle lebendig übertrete." Als sie mein entsetztes Gesicht sieht, lächelt sie traurig. „Prophezeiungen sind trickreich. Sie können die Weisesten in falscher Sicherheit wähnen. Selbst mich. Womöglich werde ich in der neuen Welt begraben werden. Fakt ist, sterben werde ich hier."

„Aber warum seid Ihr dann gekommen? Wenn ihr das schon wisst, warum bleibt Ihr nicht im Tal der Erstgeborenen und setzt euch der Gefahr gar nicht erst aus? Ihr könntet jetzt noch fliehen."

Asteria schüttelt den Kopf. „Ich laufe meinem Schicksal nicht davon, genauso wenig wie Eleanor ihrem davongelaufen ist. Wenn das mein vorbestimmter Weg ist, dann werde ich ihn gehen. Ich habe eine Aufgabe hier zu erfüllen, jeder von uns. Wir sind wie Fäden oder Farben in einem Webteppich. Ziehen sich zu viele raus, wird das gesamte Bild zerstört. Ich werde meinen Teil erfüllen, meinen letzten Flug, meinen letzten Kampf. Ich werde bleiben."

Ich will gerade wieder den Mund öffnen, als von unten Rufe zu uns hochdringen.

„Priora!" Flavius, der Arzt des Kollegs läuft die Stufen zum Dach auf mich zu, zwei auf einmal nehmend. „Unten, im Hof! Das musst du dir ansehen!"

Wir rennen zum Tor, sehen in die aufziehende Dunkelheit. Die Fackeln sind inzwischen merklich größer geworden. Ich höre die Fußtritte schwerer Eisenstiefel und kann kleine, aber gut gepanzerte Umrisse von Kämpfern erkennen, die in Dreierreihen auf uns zumarschieren.

„Sieht nicht aus, wie ich mir Damons Armee vorgestellt habe", murmelt Roxy neben mir. „Wo sind die Wächter? Und die Furien?"

Ich kneife die Augen zusammen. „Das sind nicht Damons Leute. Das sind...Zwerge?"

Jetzt kann ich die langen Bärte unter den Helmen erkennen. Die Bergbauspitzhaken, die sie sich als Waffen über die Schultern geschwungen haben. Ein einzelner löst sich aus der ersten Reihe und tritt uns entgegen.

„Öffnet das Tor", flüstere ich Flavius zu und mache meinerseits einen Schritt vor.

Der Boten-Zwerg ist ein besonders kleines Exemplar, er reicht mir gerade mal bis zur Hüfte. Seinem Stolz scheint das allerdings nicht zu schaden. Als er meinen Umhang sieht salutiert er und stellt sich aufrechter hin. „Priora!" Seine Stimme ist tief und kratzig, wie aufeinanderreihende Steine, „Eleos der Ältere schickt mich. Er lässt ausrichten, dass ihn euer Gespräch noch lange beschäftigt hat. In hundert Jahren hat ihn niemand mehr so zum Nachdenken gebracht wie ihr, Lady. Der Herr entschuldigt sich, er ist selbst kein großer Kämpfer. Aber zum Dank und zum Unterpfand dafür, dass er euren Rat ernst nimmt und ihn prüfen möchte, schickt er sein Heer. Wir sind die Zwerge unter den Klippen, das Heer des Eleos, beauftragt, seine Höhlen gegen jeden Angreifer zu verteidigen. Heute dienen wir Euch, der Priora von Stormglen. Wir sind Euer, bei Fels und Stein." Daraufhin salutiert er erneut und die Truppen hinter ihm tun es ihm gleich.

FabelblutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt