Zwischenspiel: Schattenschwestern

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Rom, 8. Februar, Abend

12 Stunden nach Eleanors Tod

Margret mochte Rom noch nie.

Zu viel Vergangenheit. Zu viele Schichten Stein und Staub, ganze Epochen menschlichen Dramas an einem Ort zentriert. In dieser Stadt steckt hinter jedem Kiesel eine Geschichte, und meistens eine blutige. Nichts hier ist neu, unbelastet, unschuldig. Manchmal hat Margret das Gefühl, die alten Steine erdrücken sie, rauben ihr die Luft zum Atmen. Sie wird sich nie an die vielen Kirchen gewöhnen, die an jeder Straßenecke lauern wie drohend erhobene Zeigefinger. Ganz zu schweigen von den Heiligen in ihren bunten Fenstern, die einen bei jedem Schritt verurteilen.

Rom ist wie Edinburgh, nur wärmer. Ein lebendiges Museum. Eleanors Art von Stadt, nicht ihre. Ihre Schwester hätte gut hier her gepasst. Margret erinnert sich noch an die Europarundreise im Camper ihrer Eltern. Sie waren noch Kinder und trotzdem hatten sich die Unterschiede in ihren Charakteren schon damals abgezeichnet.

Eleanor konnte stundenlang allein in den Vatikanischen Museen herumwandern oder Kirchen erkunden. Meistens hatten ihre Eltern sie nach langer Suche auf dem Marmorboden vor irgendeinem Kunstwerk wiedergefunden. Da ist dieses eine Bild in Margrets Kopf: Eleanor zu Füßen von Michelangelos Pieta sitzend, reglos, als sei sie selbst eine Statue, vollkommen gebannt, mit ehrfürchtig gehobenem Blick. Währenddessen hatte Margret sich lieber draußen unter der Sonne durch die unterschiedlichen Eissorten der Stadt probiert, mit dem festen Ziel, die beste Eisdiele Roms zu finden (was ihr auch gelungen war).

Eleanor gäbe sicher selbst eine gute Heiligenstatue ab. Margret sieht sie schon vor sich, ihr strenges Gesicht in Marmor gemeißelt oder mit bunten Glasscherben auf ein Kirchenfenster gebannt. Wie man sie wohl darstellen würde? Bei Märtyrern ist es üblich, die Todesart anzudeuten. Also im Umhang der Priora, mit ernstem Gesicht, den gläsernen Kelch in der einen und die schottische Distel in der anderen Hand?

Allein der Gedanke, Eleanors anklagendem Blick für den Rest ihres Lebens an den Fassaden römischer Kirchen zu begegnen, lässt Margret schaudern. Zum Glück war ihre Schwester keine Heilige. Niemand weiß das besser als sie.

Margret hat den Tag in ihren Räumen verbracht, abgeschottet vom Rest des Hauses. Niemand außer den beiden Nymphen, die ihr dienen, ist der Zutritt zu ihren Gemächern gestattet. Selbst Damon scheint kapiert zu haben, dass die eigene Schwester zu ermorden seinen Tribut fordert, und lässt sie in Ruhe.

Margret gibt vor zu schlafen. Vielleicht sogar ein wenig zu trauern, man erwartet das irgendwie von ihr.

Aber Margret schläft nicht. Sie wartet.

Am späten Nachmittag ist es still im Haus geworden. Die letzten Partygäste haben sich verabschiedet, alle anderen Bewohner, inklusive Damon, schlafen ihren Wir haben Eleanor-Murray-getötet-Party Rausch aus. So leise sie kann schleicht Margret durch die leeren Flure hinunter in die Küchen. Keiner, der sie zufällig sehen könnte, hätte das gewundert. Wo auch immer sie mit Damon residiert, die Küche ist immer ihr Lieblingsraum. Ihre Hände brauchen etwas zu tun, etwas Sinnvolles. Und was ist sinnvoller als sich selbst und die Menschen, die sie liebt zu versorgen? So hatte sie es geschafft, im Gefängnis nicht wahnsinnig zu werden. Kochen ist ihre Überlebensstrategie. Damon rümpft regelmäßig die Nase, wenn sie „niedere Dienste" verrichtet. Dafür gibt es ja Diener. Aber diese eine Sache lässt sich Margret nicht nehmen, auch nicht von ihm.

In der Küche stapelt sich das ungewaschene Geschirr von Damons Orgie. Das Küchenpersonal ist schon zu Bett gegangen, die Party war anstrengend genug und bis die ersten ihren Ausnüchterungs-Espresso verlangen wird es Morgen. Unter einer Tischdecke hat sie am Vortag einen Korb versteckt. Jetzt nimmt sie ihn an sich und zieht ein One-Way-Ticketaus der Tasche.

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