In den Hallen von Eleos (2)

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Am nächsten Tag stehe ich wieder vor der goldenen Tür. Es ist die gleiche Szene wie gestern, mit der Ausnahme, dass ich diesmal allein bin und den Umhang der Priora trage.

Nicolas und ich haben die Frau namens Freya zurück ins Kolleg gebracht. Eric hat sich um sie gekümmert (für seine Verhältnisse überraschend einfühlsam). Er war auch der einzige, der sie kannte, logisch, sie ist schließlich auch ein Mitglied seines Kollegiums. Nach einer warmen Mahlzeit ging es ihr zumindest so gut, dass sie mit ihrem Portalbuch die Heimreise antreten konnte.

Als sich die Torflügel öffnen, versuche ich krampfhaft nicht an Freya zu denken. Oder vielleicht sollte ich gerade an sie denken? An die Verzweiflung in ihren Augen, ihre Tränen, als alles, was sie sich in ihrem Leben aufgebaut und verdient hatte, mit einem Fingerschnippen als wertlos abgetan wurde. Als ihr Besitz vor ihren Augen zu Asche zerfiel und ihr das eine, das letzte genommen wurde, was sie noch an die Person erinnerte, die sie geliebt hat. Von einem Wesen, das auf ganzen Hallen voller Schmuck sitzt, das diese Ohrringe weder braucht noch tragen wird.

Ja, ich sollte an sie denken. Freya ist eine Wächterin von Stormglen Manor. Ein Mitglied des Kollegs, für das jetzt ich verantwortlich bin. Sie geht mich an.

Also hebe ich den Kopf und balle die Hände zu Fäusten, während ich durch die großen goldenen Torflügel schreite.

Sanftes, warmes Licht empfängt mich, begleitet von Vogelgezwitscher. Irgendwo plätschert ein Brunnen. Ich muss noch immer unter der Erde sein. Aber die Halle...?

Über mir erstreckt sich ein zartblaues Gewölbe wie ein wolkenloser Mittagshimmel. Zierliche Marmorsäulen umschließen das Vordach eines Innenhofs. Überall rund herum wachsen exotische Pflanzen, an den Wänden und um die Säulen rankt sich wilder Wein. Aber es ist nicht die Tatsache, dass wir kilometerweit unter der Erde sind, an einem Ort, wo weder tropische Pflanzen gedeihen, noch Wind und Himmel existieren sollten, die mich erstarrt stehen bleiben lässt. Nein. Es sind die Menschen. Die nackten Menschen.

Sie sind überall. Essen Früchte von goldenen Platten und werfen sich gegenseitig Trauben in den Mund. Trinken aus silbernen Bechern und reichen dampfende Pfeifen von Mund zu Mund. Jagen sich durch die Fontänen der marmornen Springbrunnen. Balancieren Schmetterlinge auf den Fingern, tanzen oder spielen auf der Harfe. Es sind Männer und Frauen unterschiedlichsten Aussehens. Nur eines scheinen sei alle gemeinsam zu haben: Sie sind jung. Und schön. Überirdisch schön, mit perfekt symmetrischen Gesichtern, vollen Lippen und Wimpern, strahlend weißen Zähnen und geschmeidig glänzendem Haar, als seien sie direkt einer Shampoo Werbung entsprungen. Zu schön, zu perfekt, um echt zu sein. Die ganze Szene wirkt wie die mit Instagram-Filtern überzogene Fantasiewelt eines Teenagers. Ich meine im Deutschunterricht schonmal einen Begriff für sowas in der Literatur gehört zu haben. Locus... irgendwas?

In der Mitte des Geschehens, erhöht auf einem marmornen Sitz, thront jemand, der so gar nicht dazu passt. Er sieht aus wie ein Zwerg aus dem Hobbit. Wenn Zwerge Hawaiihemden tragen und im Schneidersitz auf orangenen Meditationskissen sitzen würden. Die Ähnlichkeit kommt vermutlich von dem langen Weihnachtsmannbart, der über seinen dicken Bauch und die Stufen hinunterwallt. Außerdem ist er ungewöhnlich kein und hat ein breites Gesicht mit schmalen, schwarzen Augen und spitze Ohren. Kein Elf, kein Zwerg, aber auch kein Mensch. Asteria hat Recht. Eleos ist einfach Eleos.

Langsam schiebe ich mich in meinem silber-grauen Umhang an den nackten Menschen vorbei, bis vor die Stufen des Throns. Eine Gruppe Frauen liegt auf weiche Kissen gebettet über die Stufen verteilt und himmelt Eleos aus verschleierten Augen verliebt an. Ehrlich, wie zugedröhnt musst du sein, um den Kerl attraktiv zu finden? Was auch immer die konsumieren , sie sollten definitiv weniger davon nehmen.

Als ich näher komme, empfängt mich eine leise, männliche Stimme. „Welche Fremde wandelt in meinem Lustgarten?"

(Ah, ja, Lustgarten, das war das Wort, das ich gesucht hab).

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