Myrthas Geheimnis

385 54 5
                                    

„O, shit." Mo sinkt mit dem Rücken die Klokabinenwand entlang in die Knie. Seine Augen sind weit aufgerissen. „Bist du sicher?"

„Hallo? Hier prangt eine Darstellung der Göttin Hekate auf dem Cover! Hekate von Stormglen. Das ist wahrscheinlich die Sechzehntes Jahrhundert Version einer Namensgravur."

„Hast du reingelesen?"

„Gerade eben erst." Ich senke den Kopf über das Buch auf meinen Knien. „Es passt, das Englisch, die Schrift. Beides sehr alt. Und es war definitiv eine Priora. Sie schreibt von der Einteilung in Kollegien und von irgendeinem Regelwerk, das sie für das Kolleg gemacht hat und an das sich alle zukünftigen Priore halten sollten. Ihre Befehle müssen wohl schriftlich festgehalten worden sein. Gibt es so einen Text im Kolleg?"

„Also ich habe noch nie von so einem Regelbuch gehört. Wenn dann hat es Demetra. Wird wahrscheinlich in der Priors Study aufbewahrt."

„Glaubst du Eleanor weiß davon?"

„Sie hat die Priors Study seit Demetras Tod nicht mehr betreten. Wenn sie es nicht schon vorher kannte, dann schätze ich nicht."

„Hekates Aufzeichnungen gehen bis kurz vor dem Ende des Buchs. Aber dann, schau, auf den letzten zwanzig Seiten ändert sich die Schrift. Jemand anderes, nicht Hekate selbst, hat ein Schlusswort geschrieben. Ich schätze, es war ihre Schwester. Myrtha."

„Warum sollte Myrtha in Hecates Tagebuch schreiben?"

„Weil es eine Chronik über die Entstehung Fabelreichs ist. Und weil sie dieser Chronik noch ein Kapitel anfügen wollte. Eine Zukunftsaussicht, eine Prophezeiung. Klingt, als hätte sie Gewissensbisse gehabt. Myrtha war anscheinend nicht so begeistert von Hecates selbst erdachtem Herrschaftssystem. Die ganze Sache mit alle Fabelwesen zum Leben in dieser Blase zwingen und so weiter. Sie schreibt, dass Hecate in ihrem Sicherheitswahn zu weit gegangen ist. Dass Fabelreich ein Fehler war. Sie nennt es einen Fluch."

„Dann war sie es", murmelt Mo, als sein Hirn allmählich die Puzzleteile zusammensetzt, „Sie hat die magische Formel erfunden, mit der man etwas an Hecates Welt ändern kann und hat sie in dem Tagebuch festgehalten. Sie wollte, dass jemand die Schöpfung ihrer Schwester rückgängig macht."

„Möglich. So weit bin ich noch nicht gekommen. Aber, wenn sie die Formel erfinden konnte...Warum hat Myrtha sie dann nicht selbst angewandt? Wieso das ganze über Generationen von Wächtern weitergeben, in der Hoffnung, dass irgendjemand beendet, was sie begonnen hat?"

„Weil...weil sie es nicht konnte", sagt Mo langsam. „Im Moment der Todesgefahr hat sie ihre Kräfte an Hecate übertragen, oder? So ist die Geschichte. Sie hat ihre Kräfte verloren. Myrtha konnte also nur theoretisch einen Ausweg aufzeigen, den sie selbst aber nicht gehen konnte. Das mussten andere für sie tun."

Ich nicke. „Vielleicht hat sie die Wächter damals in ihre Pläne eingeweiht. Womöglich sogar ein paar Fabelwesen. Das würde erkläre, warum Asteria von dem Tagebuch wusste."

„Ja. Aber scheinbar wurden keine passenden Wächter gefunden, um Hecates Fluch zu brechen. Und weil Menschen nicht das Gedächtnis der Elfen haben, geriet das Tagebuch über die Jahrhunderte allmählich in Vergessenheit."

„Wusstest du, dass sie Schattenwächterinnen waren? Hekate und Myrtha."

Mo zieht die Stirn in Falten. „Nein. Aber es ergibt Sinn. Die mächtigsten Magier der Geschichte waren fast immer Schattenwächter." Plötzlich grinst er und schüttelt den Kopf. „O, Mann. Ich möchte zu gern Erics Gesicht sehen, wenn er erfährt, dass unsere verehrte Gründerin die erste Schattenwächterin von Stormglen war."

Mir ist nicht wirklich nach Lachen zumute. „Das kann doch alles kein Zufall sein. Myrtha und Hecate, Schattenwächterinnen. Damon wusste von dem Buch, auch er, ein Schattenwächter. Woher? Wer hat es ihm gesagt? Und dann bekomme ich, Schattenwächterin, das Buch von Eleanor. Es ist fast, als suche es uns. Als wolle es von uns gefunden werden."

FabelblutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt