Zwischenspiel: Das Abschiedsglas (2)

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Eleanor starrt es an. Schluckt.

Wie ein Kelch voll Schatten. Wirklich Damon? Grausame Poesie, selbst für dich.

Ihr Hals ist eng geworden. Einatmen. Ausatmen. Zeit, die Rüstung anzulegen.

„Wir können noch warten", sagt Margret, auf einmal wieder sanfter und Eleanor weiß, dass ihre Schwester sie ganz genau beobachtet, „Du musst-"

„Schwächt es die Wirkung, wenn man es verdünnt?"

„Was?" Margret runzelt die Stirn, sichtlich vor den Kopf gestoßen. „Nein."

„Gut." Eleanor greift nach dem Whiskey und schüttet einen großzügigen Schluck in ihr Glas. Dann gibt sie sich einen Ruck und nimmt es in die Hand, dreht es zwischen den Fingern, wie um sich an das Gewicht zu gewöhnen. Kaltes Glas auf kalter Haut. „Können- können wir nach draußen gehen?"

Margrets Brauen sind zusammengezogen. Sie wirkt verärgert, wahrscheinlich weil Eleanor die Situation mal wieder nicht ernst genug nimmt, aber bei den letzten Worten nickt sie.

Gemeinsam treten sie vor die Tür. Draußen ist die Dunkelheit blasser geworden. Am Horizont, zwischen den Hügeln der Highlands zeigt sich ein schmaler Streifen Sonnenaufgang. Für einen Moment schließt Eleanor die Augen, lässt sich den Wind über die Haut streichen, kalt und erdig.

„Also dann." Sie blickt auf die schwarze Flüssigkeit, versucht sich den Geschmack von Feuer und Torf in Erinnerung zu rufen. Eine kalte Windböe streicht über ihre Wangen, lässt ihre Haare tanzen. Sie wendet das Gesicht ihrer Schwester zu, versucht ein halbes Lächeln. „Auf deine Gesundheit."

Einatmen. Ausatmen.

Sie hebt das Glas an die Lippen.

Einatmen, ausatmen.

Sie schließt die Augen und nimmt den ersten Schluck.

Diesmal schmeckt sie kein Feuer, kein Brennen, das den Magen wärmt. Der Whiskey kommt gegen das schwarze Zeug nicht an, sie schaudert, während ihr eisige Flüssigkeit die Kehle herunterrinnt.

Kurz muss sie absetzen. Schlucken, atmen. Als sie den Kelch wieder an die Lippen führt, stößt er mehrmals gegen ihre Zähne, so sehr zittert sie. Sie umklammert ihn, bohrt die Nägel in das geschliffene Glas, aber das macht es nur schlimmer. Schwarze Flüssigkeit schwappt über den Rand, auf ihr Kinn, den Boden-

„Eleanor." Aus dem Nichts schließt sich eine Hand um ihre, löst den Kelch aus ihrem Klammergriff. „Eleanor, stopp!"

Sie blickt auf und schaut in das Gesicht ihrer Schwester, nur Zentimeter vor ihr in der Dunkelheit.

„Du musst das nicht durchziehen." Margrets Worte sind leise, kaum mehr als ein Windhauch.

Trotzdem ist Eleanor sofort alarmiert. „Hör auf!" Sie weicht einen Schritt zurück, als hätte sich ihre Schwester gerade vor ihren Augen in einen Dämon verwandelt. „Versuch es erst gar nicht!" Die Panik steigt ihr in die Kehle und lässt ihre Stimme höher rutschen. „Ich schaffe das!"

Margrets Lippen kräuseln sich. Ob aus Spott oder Ärger ist unmöglich zu erkennen. „Natürlich tust du das." Kurz ruht ihr Blick auf dem Kelch in ihren Händen, dann ist er zurück bei Eleanor. Täuscht sie sich oder liegt ein Hauch Traurigkeit in ihren Augen?

Sie zuckt zusammen, als Margret unerwartet die Distanz zwischen ihnen überwindet. Ihre Hand nimmt und sie behutsam wieder um das Glas legt, einen eiskalten Finger nach dem anderen. „Was...?"

„Lass dir helfen. Wenigstens einmal."

Eleanor atmet aus. Margrets Hand ist warm auf ihrer, viel wärmer als die kalte Flüssigkeit im Glas unter ihren Fingern. Plötzlich hat sie Angst vor dem Moment, wenn ihre Schwester zurücktritt und sie wieder allein damit lässt. Zu ihrer Überraschung tut Margret das Gegenteil. „Zusammen?" Als sie den Kelch hebt gehorcht Eleanor und überlässt ihrer Schwester die Führung, die das Glas wieder zu ihren Lippen führt. Ihre Hand stützt, sie ruhig hält, während Eleanor weitertrinkt, Schluck für Schluck, bis nichts mehr übrig bleibt bis auf schwarze Schlieren am Boden des Kelchs. Erst dann lässt Margret los. Weicht zurück, als sei sie mit einem Mal selbst erschrocken über so viel Nähe.

Eleanor senkt den Blick. Im zunehmenden Licht des neuen Tages wird die Waage auf ihrem Handgelenk blasser und blasser, bis sie ganz verschwunden ist. In ihrem Kopf hört sie Nicolas' Stimme. Ich hoffe, das ist es wert.

Die Wirkung tritt ohne Vorwarnung ein. Ihre Muskeln erschlaffen, der Weinkelch löst sich aus ihrer Hand, rollt auf das Gras. Sie schwankt nicht mal, ihre Beine knicken von einem Moment auf den anderen einfach weg. Ehe sie fallen kann, ist Margret da. Mit überraschender Kraft packt ihre Schwester zu und hält sie aufrecht, bevor sie sich langsam, Eleanor in den Armen, auf die Knie sinken lässt.

Eleanor hat sich diesen Moment hundert Mal vorgestellt. Wenn ihr Verstand, die immer klare Flamme, allmählich erlischt. Wie ein Funke, den der Wind vom Feuer fortträgt.

Für einen Augenblick, ein letztes Aufbäumen des Lebens in ihr, sind ihre Sinne geschärft. Sie riecht und fühlt das Gras unter ihr, feucht, erdig, mit dem fernen Versprechen von Frühling. Den Wind, kalt auf den Wangen, spürt die Träne, die sich endlich löst, und weiß, dass ihre Maske zerbrochen ist. Es kümmert sie nicht.

Unter all dem fühlt sie, wie etwas seine Arme nach ihr ausstreckt. Da ist Finsternis, in den Momenten, wenn ihre Lider flackerten, aber gleichzeitig breitet sich Wärme in ihrem Körper aus, eine angenehme Wärme, die sie in den Abgrund lockt. Dorthin wo Ruhe ist, Stille und ein Ende ihrer Kämpfe.

Ihr Blick sucht Margrets Gesicht. Es kostet sie einige Mühe. „Danke." Danke, für eine Stunde Frieden, die sie nicht verdient und trotzdem bekommen hat. Über ihr schrumpfen und wachsen die Sterne, durchlöchern die Dunkelheit wie Nadeln aus Licht.

Margret antwortet nicht. Sie streckt die Hand nach ihrem Gesicht aus und einen panischen Moment glaubt Eleanor, dass sie ihr die Augen zudrücken will. Aber Margret wischt nur sachte eine Träne von ihrer Wange.

Sie kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Bilder und Gefühle gleiten durch ihre Finger wie Wasser. Da ist Linas Lachen. Mo in ihrem Kollegium. Demetra und der Geruch nach grünem Tee, nach Regen auf heißer Erde. Eine junge Margret, spielend vor dem Kamin im Cottage.

Ja, Nicolas. Sie sind es wert.

Erschöpfung legt sich wie eine warme Decke über sie. Sie will noch mehr sagen, viel mehr, aber ihre Zunge ist plötzlich schwer geworden. Etwas zieht an ihren Augenlidern. Diesmal kämpft sie nicht.

Der Arzt hatte keine Ahnung, denkt Eleanor, während es dunkel um sie wird, Sterben ist überhaupt nicht wie Einschlafen.

Es ist viel, viel leichter.

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