Feuerprobe (3)

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Demetra fährt herum. Auch ich hebe den Kopf. Meine Augen müssen nicht lange suchen.

Auf der Galerie über uns steht Eleanor. Sie lehnt mit verschränkten Armen an einer Säule, den Mund zu einem freudlosen Lächeln verzogen. „Was ist es diesmal, Eric? Mal wieder aus Versehen von einen isländischen Troll den Arm versteinern lassen?"

„Immerhin war es nur mein Arm und nicht mein Herz!", faucht Eric zurück, „Du hattest da ja offenbar weniger Glück. Ehrlich", er schnaubt, „Lina tut mir jetzt schon leid."

Seine letzten Worte wischen das Lächeln aus Eleanors Gesicht. „Was hat das Mädchen damit zu tun?"

„Ruhe, beide!" Die Priora schließt die Augen und fährt sich über die Stirn, als müsse sie sich sammeln. Schließlich atmet sie aus und hebt den Blick zur Galerie. „Gut, dass du da bist, Eleanor. Linas Prüfungen...", sie schluckt, zögert, „wir sind zu keinem Ergebnis gekommen."

Stille.

„Nein." Eleanor starrt sie an. Ich kann zuschauen, wie die Worte in ihr sacken. „Er hat recht. Ihr habt einen Fehler gemacht."

Eric schnaubt, aber Demetra schüttelt nur den Kopf. „Ich weiß, das ist ein Schock, aber Eleanor, bitte..."

„Du hast gesagt, ich muss das nicht tun." Eleanors Hand schließt sich um das Geländer der Galerie, so fest, dass sich ihre Fingerknöchel weiß unter der Haut abzeichnen. „Du hast es mir versprochen!"

„Ich konnte es dir nicht versprechen. Nie. Und das weißt du. Du bist eine Alumna, du hast eine Pflicht. Wie jeder von uns."

Eleanor rührt sich nicht. Noch immer ruht ihr Blick auf Demetra, ausdruckslos, mit zusammengepressten Lippen. Dann wandert er zu mir. Und zum ersten Mal, seit wir uns kennen liegt etwas feindseliges darin. Ihre Stimme ist kalt, ohne jede Ironie. „Es wäre gnädiger, sie nach Hause zu schicken."

„Diese Entscheidung liegt nicht in unserer Hand." Demetra wirkt matt, müde, als sei sie innerhalb der letzten Minuten um Jahre gealtert. „Sie verdient die Wahrheit Und ich möchte es nicht noch einmal sagen müssen."

Eleanor stößt sich von der Säule ab. Aus kalten Augen sieht sie auf mich herab: „Komm." Ein Schaudern läuft mir den Rücken hinunter. Ich habe mich vor ihr gefürchtet, damals auf dem Friedhof, aber kein Vergleich zu jetzt.

Mir ist klar, dass mich alle Alumni beobachten, als ich die Treppe hinauf in den ersten Stock steige, wo Eleanor auf mich wartet. Die anderen folgen uns, aber Eleanor sagt nichts dazu. Sie kehrt mir den Rücken und steigt weiter das Treppenhaus hinauf. Dabei legt sie ein Tempo vor, das mich fast ins Schwitzen bringt. Wir kommen am Kapitel vorbei, dann an Demetras Studierzimmer. Höher war ich im Stirnhaus noch nie, ich wusste nicht einmal, dass es über den Räumen der Priora noch ein Stockwerk gibt.

Jetzt liegt es vor mir. Die letzte Treppe mündet in eine Jugendstiltür aus schwarzem Holz und Glasfenstern. Wie im Kollegium des Feuers sind auch hier Sätze über den Türsturz geschrieben. Alte Wörter aus verblichenem Silber: Wo Schatten, da auch Licht. Und darunter in einer anderen, offenbar neueren Schrift: Come hell or high water.

Die Tür schwingt von Geisterhand auf, als Eleanor mit wehendem Umhang hindurchschreitet. Dahinter liegt ein langer Gang, mit Fenstern auf einer Seite. Wir durchqueren ihn, kommen in einen Raum, der wie ein Wohnzimmer aussieht. Wenn in einem Herrenhaus im sechzehnten Jahrhundert so etwas wie ein Wohnzimmer existiert hätte. Die Möbel, hohe Lehnstühle aus dunklem Holz neben bequemen Ohrensesseln, wirken wie ein Mix aus Mittelalterfilmset und englischem Landhaus. Boden und Wände sind aus nacktem Stein, aber mit Teppichen und Stofftapeten behängt. Es gibt einen offenen Kamin und auf den Tischen brennen strombetriebene Petroleumlampen mit Kugelschirmen aus gefrostetem Milchglas.

Plötzlich regt sich in einem der Sessel etwas. Ein Kopf streckt sich in unsere Richtung. Ich kenne diesen Kopf.

„Mo?"

„Lina?" Er scheint ebenso überrascht wie ich. „Was machst du hier?"

Das gleiche könnte ich dich fragen, liegt mir auf der Zunge, aber ich komme nicht dazu. Eleanor achtet weder auf Mo, noch auf mich, sie hat schon die Tür zum nächsten Raum aufgestoßen. Ich beeile mich, hinterherzukommen, Mo überlasse ich Demetra und den Alumni, die jetzt flüsternd auf ihn einreden.

Wieder geht es durch einen langen Gang, wieder durch eine Tür. Dann sind wir am Ziel. Ich weiß es, weil Eleanor innehält. Aber auch, weil der Raum, den wir betreten haben, eine Sackgasse ist. Soweit ich sehen kann, gibt es nur den einen Eingang und es dauert einen Moment, bis ich begreife, um was für eine Art von Ort es sich handelt.

Wir sind in einer Kirche. Einer ehemaligen Kirche, wahrscheinlich aus der Zeit, als das Herrenhaus noch ein Kloster war. Das Kirchenschiff bildet ein Achteck, mit gotischen Streben, die sich erst an der Decke zu einem sternförmigen Fenster verbinden. Bei Nacht, hat man hier sicher einen wunderbaren Blick auf die Sterne. Auch jede der acht Seiten wird von einem Fenster durchbrochen. Die sakrale Einrichtung fehlt fast komplett, nur noch der Altar ist erhalten, ein nackter Steintisch, genau in der Mitte des Raumes. Dahinter, dort wo in einer normalen Kirche das Kreuz wäre, hängt ein schwarzes Messer an der Wand.

Es ist dieses Messer, das Eleanor jetzt aus seiner Halterung nimmt und zu mir bringt. Mittlerweile haben sich auch Mo und die Alumni im Raum versammelt, aber Eleanor nimmt sie gar nicht wahr. Ihr Blick ist auf mein Gesicht gerichtet, als sie vor mir inne hält. Dann gleiten ihre Augen tiefer, sie packt meine Schulter.

Und stößt das Messer in mein Herz.

Ich bin zu überrascht für einen Schrei. Das verblüffe Keuchen, das über meine Lippen kommt, wird von den acht Wänden zurückgeworfen wie ein Geisterchor, bevor es im Stein verebbt.

Mein Blick wandert von Eleanors Gesicht nach unten zu meinem Herzen. Ich bin vollkommen starr. Der Griff des Messers ragt aus meinem Brustkorb. Ich erwarte, dass sich mein Pullover rot färbt, aber kein Blut kommt. Seltsamerweise spüre ich nicht einmal Schmerz. Bin ich überhaupt verwundet? Wie kann das sein, diese eisige Taubheit, wo ich doch eine Klinge in mir stecken habe?

Dann spüre ich es.

Etwas anderes, etwas Neues. Ich kann nicht benennen, was es ist, ein Gefühl, eine Energie. Es regt sich, streckt sich wie nach langem Schlaf. Will raus, ans Licht. Wie von selbst hebe ich die Arme.

Und da sehe ich sie:

Schatten.

Sie verlassen meine Handflächen als schwarzer Rauch, schlängeln sich um meine Finger, werden dichter, größer, langgezogen wie Kaugummi. Bald schon kann ich sie nicht mehr zählen. Schlieren von Schwarz schweben vor mir in den Raum, wickeln sich um mich, hüllen mich ein in Wolken und Strudel aus Finsternis. Sie tanzen. Immer wilder, immer schneller. Froh, endlich am Licht zu sein, endlich zu existieren nach so langem Schlummer.

Ich habe nie etwas Schrecklicheres gesehen.

Und nie etwas Schöneres.

Ich lache. Lache und lache, während meine Schatten um mich herum flattern wie eine Schar wilder Vögel.

Mit einem Ruck zieht Eleanor den Dolch aus meinem Fleisch.

Sofort ist alles vorüber. Von Eleanor aus dem Gleichgewicht gebracht, falle ich nach vorn auf die Knie, die Hand auf die Einschnittstelle gepresst. Nur, dass da keine ist. Wie die Venusfliegenfalle oder das Feuer, hat mich auch der Dolch nicht verletzt. Meine Schatten lösen sich auf, verschwinden im Strebewerk der Kirche. Was zurückbleibt ist ein eisiges Schweigen.

Auf den Knien liegend hebe ich den Kopf und schaue die Alumni an, einen nach dem anderen. Ihre Mienen sind ausdruckslos, festgefroren. Die einzige, die sich rührt, ist Eleanor. Und, wie könnte es anders sein, natürlich schmunzelt sie.

„Gratuliere", sagt sie und schaut auf mich hinunter, „Du bist gerade innerhalb von zehn Sekunden zur meist gehassten Person des Kollegs geworden."

FabelblutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt